Coolout statt Burn-out – Wenn die Seele auskühlt (Teil 1)

Coolout statt Burn-out – Wenn die Seele auskühlt (Teil 1)

Insgesamt 20 Jahre lang war ich als Krankenschwester tätig. 16 Jahre davon auf einer Intensivstation. Anfänglich folgte ich meiner Naivität als Schwesternschülerin, die versuchte das frisch erlernte theoretische Wissen in der Praxis anzuwenden. Mit der Zeit merkte ich aber, dass ich es nicht schaffe, den moralischen, zeitlichen und wirtschaftliche Belangen gleichermaßen gerecht zu werden. Statt der Naivität trat die Ernüchterung ein. Es musste etwas verändert werden, denn der Todesstoß für ein Unternehmen ist es, wenn einem die Unternehmung egal ist. Unzählige Versuche habe ich unternommen, um die Arbeitsabläufe zu optimieren, meine Prioritäten anders zu setzen und dennoch meinen eigenen Anspruch aufrechtzuerhalten. Statt meiner Berufung nachzukommen, resignierte ich mehr und mehr, arbeitete stoisch meinen Dienst nach Vorschrift ab. Ich begann zu dekompensieren, stellte mich mehr und mehr kalt, ich desensibilisierte mich gegenüber der mir anvertrauten Patienten. Ohne es in all den Jahren zu merken, war ich im Coolout gelandet.

Nicht jede Pflegekraft brennt aus!

Jedem dürfte mittlerweile der Begriff Burn-out geläufig sein. Dieser Symptomkomplex beschreibt einen emotionalen, geistigen und körperlichen Erschöpfungszustand durch chronische Überforderung, hohe Arbeitsbelastung, Stress oder auch anhaltende Kränkungen im Beruf. Die betroffene Person schafft es nicht, auch aufgrund mangelnder Ressourcen, den dauerhaften Belastungen zu begegnen. Es kommt zur völligen Erschöpfung und zum „Ausbrennen“. Dies trifft jedoch nicht auf alle zu. Was passiert mit den anderen?

Schutzreaktion Coolout

Karin Kersting ist nicht nur Krankenschwester und Lehrerin für Pflegeberufe, sondern auch Diplom-Pädagogin und Professorin für Pflegewissenschaft/Pflegeforschung. Seit mehr als 20 Jahren forscht sie zum Thema „Coolout“ in der Pflege und beschreibt Konfliktsituationen und moralische Dilemmata in der Pflege, die durch ungenügende strukturelle Bedingungen entstehen. Mit Coolout wird ein Phänomen in der Krankenpflege beschrieben, welches übersetzt „Auskühlen“ oder „sich kalt machen“ bedeutet. Gemeint ist damit der Prozess des Gleichgültigwerdens bzw. der moralischen Desensibilisierung in der Pflege. Es handelt sich um einen unbewussten Schutzmechanismus der Seele, um den Anforderungen und Sachzwängen im Pflegealltag gerecht zu werden und um überhaupt noch weiter funktionieren zu können.

Unter welchen Umständen?

Täglich werden Pflegende mit unauflösbaren Widersprüchen konfrontiert. Einerseits sollen sie den Patienten gemäß Krankenpflegegesetz versorgen, die Aktivitäten des täglichen Lebens in ihrem pflegefachlichen Handeln durchführen, ressourcenorientiert arbeiten und auf die individuellen Bedürfnisse eines jeden Patienten eingehen (vgl. Bundesgesundheitsministerium, 2003b, Anlage 1A der KrPflAPrV: „ihr Pflegehandeln an Qualitätskriterien und an wirtschaftlichen Prinzipien ausrichten. Sie müssen lernen, mit materiellen und personellen Ressourcen ökonomisch umzugehen“).

Andererseits steht nicht nur der ökonomische Zwang, der die Qualität der Pflege beeinträchtigt, sondern auch die steigende Arbeitsverdichtung, der chronische Zeit- und Personalmangel, die körperlich schwere Arbeit, die andauernde Konzentration und die chaotischen Stationsabläufe.

„Tatsächlich aber unterliegt das Krankenhaus einem Doppelzweck: Einerseits – von seinem Selbstverständnis her und in seiner Präsentation nach außen – ist es eine humane Institution zum Zweck der uneigennützigen Krankenversorgung, andererseits ist es ein Wirtschaftsbetrieb, der verbrauchte Arbeitskraft bis zur Wiederherstellung der Arbeits – und Leistungsfähigkeit reproduzieren soll und dabei orientiert ist an den Prinzipien auch anderer bürokratischer und wirtschaftlicher Organisationen: an Effektivität, Rationalität und störungsfreiem Ablauf. Die humanen und ökonomischen Zielsetzungen des Krankenhauses stimmen nicht notwendigerweise überein, stehen sich vielmehr oft antagonisch gegenüber“ (Bischoff 1984:171).

Es ist erstaunlich wie eine ganze Berufsgruppe damit umgeht. Wie schaffen sie es, zeitsparend zu arbeiten und dabei den individuellen Bedürfnissen der Patienten gerecht zu werden? Wie halten sie die tägliche Belastung aus, ihre Arbeit nicht so durchführen zu können, wie sie es sollen und wollen, aber nicht können?

Indem sie sich „kalt machen“

Pflegende fangen an, die Alltagssituationen so für sich zu deuten, dass sie handlungsfähig bleiben und bestehen können. Sie nehmen die strukturellen Bedingungen hin und stabilisieren damit unbewusst etwas, wovor sie sich eigentlich schützen wollen: die Kälte. Der Patient wird irgendwann als Störfaktor angesehen, die Kommunikation bleibt mehr und mehr auf der Strecke und der Patient erhält das unbedingt notwendige Maß an Pflege. Menschliche Zuwendung kommt zu kurz. Die Pflegenden beginnen sich „kalt zu machen“.

Die Metapher der „Kälte“ wurde geprägt von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und später Andreas Gruschka. Damit lässt sich erklären, wie Menschen das Spannungsfeld von normativen Ansprüchen und gesellschaftlichen Funktionen, die diesen Ansprüchen entgegenstehen, so aushalten, dass sie ihre moralische Integrität wahren und handlungsfähig bleiben können (Kersting 2013, S.128, Gruschka 1994, S.34ff).

Im Verlauf erlernen sie Strategien, die eher unscheinbaren und mitunter harmlosen Regelverletzungen zu tolerieren und hinzunehmen. Gerade weil es sich so einschleicht, birgt diese Normverletzung die Gefahr der moralischen Desensibilisierung. Es wird gang und gäbe, die Norm zu verletzen. Schließlich macht es doch irgendwie jeder und woanders ist es auch nicht besser…

Wie sich das im Arbeitsalltag ausdrückt, erklärt die Kälteellipse mit ihren Reaktionsmustern. Dazu mehr im nächsten Blogbeitrag.

 

Hier geht’s zum zweiten Teil der Blogbeitragsreihe.

Teil 3 finden Sie hier.

Teil 4 befindet sich hier.

Haben Sie sich in den beschriebenen Situationen wiedererkannt? Ohne Zweifel kommt das Phänomen des Auskühlens nicht nur in der Pflege vor, sondern auch bei Polizisten, Lokführern und Sachbearbeitern. Was sind Ihre Erfahrungen mit dem „Dienst nach Vorschrift“? Schreiben Sie es uns gern als Kommentar auf diesen Beitrag.

 

Quellen:

Hier finden Sie alle Informationen zu unseren Ausbildungen zum Heilpraktiker für Psychotherapie:

Dieser Beitrag wurde von Enikö Orbán, Geschäftsbereichsleiterin Fachbereich Psychotherapie der Deutschen Heilpraktikerschule Leipzig, verfasst.

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