Da die Rahmenbedingungen sich nicht ändern, sogar mehr Druck durch ökonomische Zwänge, sei es durch Stellenabbau, Privatisierung von Kliniken oder statischen Gehältern, aufgebaut wird, nimmt die physische und psychische Belastung und Überlastung innerhalb der Pflege kontinuierlich zu. Die Pflegenden passen sich weiter an und reagieren mit den entsprechenden Reaktionsmustern. Im zweiten Teil der Blogbeitragsreihe wurden die eher passiven Reaktionen erläutert. Aber es gibt noch verschiedene andere, welche mit viel Aufwand einhergehen. Diese versuchen, die Widersprüche in der Praxis anzugehen, zu verändern und die Norm des Alltags zu realisieren. Diese konstruktiven Strategien zielen jedoch mehr auf Lösungen, Kompromisse und Idealisierungen ab, als dass die strukturellen Bedingungen, welche die Probleme verursachen, angegangen werden.
Operative Reaktionsformen = Praktische Negation des Widerspruchs
Nun werden aktive Versuche unternommen, den Widerspruch aufzulösen. Viel Kraft wird darauf verwendet, die Widersprüche in der Pflege zu beseitigen. Jedoch werden die vorherrschenden Bedingungen nicht angetastet, dafür aber Lösungen innerhalb dieser gefunden. Was dabei leider nicht bemerkt wird, ist, dass damit der Zustand eher aufrechterhalten und stabilisiert wird. Bei der Idealisierung falscher Praxis ist man sich darüber im Klaren, dass unter den strukturellen Bedingungen ein normgerechtes Handeln nur bedingt möglich ist und dieses negative Folgen nach sich zieht. Durch den geschärften Blick werden Defizite deutlicher erkannt und konkrete Veränderungs- und Verbesserungsvorschläge eingebracht, um diese zu beseitigen. Die Praxisneugestaltung soll praktikabel und für alle moralischen, ökonomischen und normativen Anforderungen akzeptabel sein. Vorschläge beziehen sich auf:
- Teamarbeit und Kollegialität: Ein Team arbeitet gut zusammen, stimmt sich ab, hilft sich und unterstützt sich gegenseitig. Gemeinsam bewältigen das Team die alltäglichen Anforderungen. ABER fakt ist: Bei knapper Besetzung bleibt das Team knapp besetzt und die Arbeit am und mit dem Patienten wird nicht weniger.
- Empathie und Setzen von Prioritäten: Prioritäten zu setzen bedeutet in dem Falle Abstriche an den Pflegemaßnahmen zu machen. Erforderliche Pflege wird nicht durchgeführt. Unwichtige Pflegetätigkeiten fallen weg. Beispiele wären: Da werden mal keine Beine gewaschen oder dem Patienten schnell das Essen gereicht, statt ihn dabei zu unterstützen. „Der Verband sieht doch noch gut aus, es reicht, wenn er morgen erneuert wird“.
- Kompromisse: Ein Ausgleich wird geschaffen (und der eigene moralische Anspruch an eine vermeintlich gute Pflege gehalten), indem man die Zuwendung und Pflege am Patienten über mehrere Tage verteilt. Gestern wurde für den einen Patient mehr Zeit aufgewendet, dafür ist heute der andere mehr dran und morgen wieder ein anderer. Somit hat doch jeder Patient gleich viel Aufmerksamkeit bekommen, ich schaffe meine Arbeit gut und erfülle die Norm. Tragisch daran ist, dass dieser fadenscheinige Kompromiss keiner ist, denn im Vordergrund steht immer noch die Sicherung der Arbeitsabläufe, aber nicht die Erfüllung der erforderlichen Pflege.
- Routine und Erfahrung: Im Verlauf vieler Arbeitsjahre hat man die Erfahrung gesammelt, auf welche Maßnahmen man verzichten kann, ohne dass es zu einem Schaden am Patienten kommt. Das Ziel besteht hier letztlich nur noch darin, kein größeres Unheil anzurichten.
- Verbesserung der Arbeitsorganisation: Hier wird eine Veränderung der organisatorischen Abläufe angestrebt. Man meint, viele neue Wege gehen zu müssen, Veränderungen herbeizuführen, Arbeitsaufgaben umzuverteilen und die Lösung in der Verbesserung der Arbeitsorganisation zu sehen. Leider erkennt man nicht, dass bei begrenzten Ressourcen auch nur begrenzt optimiert werden kann.
Theorie und Praxis werden so in Einklang gebracht, dass die feste Überzeugung entsteht, alles richtig zu machen. Es wird fest an das Gelingen geglaubt und dieser Glaube vehement vertreten, bis der innere Widerspruch erfolgreich aufgelöst ist. Allerdings wird hier der Blick für die Realität verschleiert.
Das Muster Kompensation für falsche Praxis strebt ein Verhalten an, welches sich auf die Anpassung der strukturellen Bedingungen bezieht. Hier steht mehr und mehr der Wunsch nach einer gelingenden Praxis im Vordergrund. Die Pflegenden erkennen, dass eine patientenorientierte Pflege gut und richtig ist, die Rahmenbedingungen diese allerdings verhindern. Sie wissen auch darum, dass den Lösungsversuchen Grenzen gesetzt sind und entwickeln zunehmend ein Unbehagen gegenüber der Ausführung dieser falschen Praxis. Eine zeitweise optimal durchgeführte Pflege soll die Defizite im Berufsalltag ausgleichen und ihnen das Gefühl vermitteln, die Widrigkeiten trotzdem zu kompensieren.
Das stellt aber nicht alle zufrieden. Beim Reaktionsmuster Individuelle Auflösung dulden einige andere den Widerspruch in ihrem Arbeitsalltag nicht mehr. Solange das Handeln keine negativen Folgen für den Patienten hat, wird das eigene Verhalten den vorgegebenen Bedingungen angepasst. Kommt es aber zu einer Normverletzung in einem Bereich, der dem Patienten schadet, kommt es zu einer Verweigerung. Diese Verweigerung richtet sich in dem Falle gegen die strukturellen Bedingungen. Der pflegefachliche Anspruch und dessen Verwirklichung stehen über den vorherrschenden Zwängen. Damit werden Freiräume und Rechtfertigungen geschaffen, weswegen die Ausführung pflegerischer Maßnahmen intensiver, gründlicher und ausgiebiger stattfindet, egal wie lange das dauert. Leider ruft dieser Versuch Konflikte innerhalb des Teams hervor und stellt nur eine individuelle und keine kollektive Lösung dar.
Reflexive Reaktionsform = Einsicht in Kälte
Bei dem Reaktionsmuster der Reflektierte Hinnahme von Kälte kommt die Einsicht der Unauflösbarkeit des Widerspruchs. Aufgrund dieser Erkenntnis wissen die meisten Pflegenden in diesem Reaktionsmuster, dass sie weiterhin genötigt sind, unter diesen Rahmenbedingungen zu handeln sowie dass es ihnen nicht möglich sein wird, eine Verletzung der Norm zu verhindern. Egal, wie sie sich verhalten, sie können nicht jedem gerecht werden und damit fügen sie sich den Umständen und nehmen zunehmend eine resignative Haltung ein. Fragt man Pflegende nach ihrer Haltung gegenüber ihrer beruflichen Tätigkeit, so kommen Aussagen wie: „Dann wird halt nur noch Dienst nach Vorschrift gemacht.“ oder „Ich gehe nur noch auf Arbeit, weil ich das entsprechende Schmerzensgeld erhalte“. Andere wiederum reagieren mit Protest auf die gegenwärtigen Situationen, indem sie versuchen, auf politischer Ebene die gesellschaftlichen Bedingungen zu ändern, was in den letzten Jahren auch vermehrt in den Medien thematisiert und diskutiert wird.
All diese Reaktionsmuster vereint, zeigen, dass in den Pflegeberufen nicht das geleistet werden kann, was geleistet werden sollte.
Fazit
Der schleichende, unmerkliche Prozess des Coolouts bietet letztlich den Pflegenden die Möglichkeit, in dem defizitären Alltag zu überleben, wohlwissend, dass sie damit das System, welches ihre Arbeit torpediert, mit aufrechterhalten.
Hier geht’s zum ersten Teil der Blogbeitragsreihe.
Den zweiten Teil der Reihe finden Sie hier.
Haben Sie sich in den beschriebenen Situationen wiedererkannt? Ohne Zweifel kommt das Phänomen des Auskühlens nicht nur in der Pflege vor, sondern auch bei Polizisten, Lokführern und Sachbearbeitern. Was sind Ihre Erfahrungen mit dem „Dienst nach Vorschrift“? Schreiben Sie es uns gern als Kommentar auf diesen Beitrag.
Quellen:
- Gruschka, Andreas 1994 „Bürgerliche Kälte und Pädagogik. Moral in Gesellschaft und Erziehung“ Wetzlar Büchse der Pandora-Verlag
- PfleGe 4.Jg. (1999) Nr.3
- Bundesgesundheitsministerium 2003, Krankenpflegegesetz
- https://www.hwg-lu.de/fileadmin/user_upload/Coolout_in_der_Pflege.pdf
- http://www.ethik-und-gesellschaft.de/ojs/index.php/eug/issue/view/35
- Kersting, Karin 2011 „Coolout in der Pflege. Eine moralische Desensibilisierung“ Frankfurt a.M. Mabuse Verlag
- Vortrag im Rahmen der Gesundheitsökonomischen Gespräche, Ludwigshafen am Rhein, 17.Oktober 2014 „Moralische Desensibilisierung und Professionalisierung in der Pflege“
- Kersting, Karin (2016): Was ist Coolout?
- https://opac.hs-lu.de/repository/DOC000001//B00207512.pdf
- Kersting, Karin (2016) Die Theorie des Coolout und ihre Bedeutung für die Pflegeausbildung, Mabuse Verlag, Frankfurt am Main
- Kersting, Karin (2017) fachlicher Anspruch vs. Praxisrealität
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