Bedürfnis nach Bindung – jemandem zur Seite stehen: Wenn ich an den Begriff Bindung denke, dann kommen mir Worte wie Vertrauen, Sicherheit, Gemeinschaft, aber auch die Verbindung zu mir selbst und wie ich meine und anderer Menschen Grenzen wahrnehme und setze.
Bedürfnis nach Bindung – welchen Zweck hat das?
Als Neugeborenes ist unser Bedürfnis nach Bindung überlebenswichtig. Es wird sein Verhalten und Denken so organisieren, dass die Bindungsbeziehung zu der/den Bezugsperson/en aufrecht erhalten bleibt, selbst wenn dies evtl. bedeutet, eigenen Schaden zu nehmen. Die Bindung dient verschiedenen wichtigen Zwecken:
- Erstens erhöht es wie schon beschrieben die Überlebenschancen eines Kindes, da die Bezugsperson/en auch gleichzeitig den Zugang zu Nahrung und Schutz ermöglichen.
- Des Weiteren hilft die Bindung dem Kind, eine emotionale Sicherheit zu erleben und somit die Umwelt aus einer sicheren Basis (nach Bowlby) zu erforschen.
- Ein weiterer wichtiger Aspekt der Bindung ist die Möglichkeit, sie als eine Form der Co-Regulation zu nutzen, um besser mit Erregungszuständen und Emotionen agieren zu können.
- Durch Bindungen können bestimmte Bedürfnisse nach u.a. Wohlbefinden, Sicherheit, Geborgenheit sowie körperlicher Berührung befriedigt werden.
Bindungsphasen
Laut der Bindungstheorie, die durch Bowlby und Ainsworth maßgeblich entwickelt wurde, gibt es verschiedene Entwicklungsphasen des kindlichen Bindungsverhaltens, das wiederum Auswirkungen auf unser Bindungsverhalten im Erwachsenenalter haben kann.
Vorbindungsphase (Geburt bis 6 Wochen)
Das Kind reagiert allgemein auf Menschen, besonders aber auf das Gesicht. Es differenziert jedoch noch nicht nach spezifischen Personen. Angeborene Verhaltenssignale wie Greifen oder Lächeln bewirken Kontakt zu anderen Menschen. Sehr nahe Bezugspersonen werden an Geruch und Stimme erkannt.
Entstehungsphase (Bindungsbeginn – 6 Wochen bis 6/8 Monate)
Der Säugling reagiert auf die Bezugsperson/en anders als auf Fremde, protestiert jedoch noch nicht, wenn es von ihr/ihnen getrennt wird. Das Kind unterscheidet Personen hinsichtlich ihrer Vertrautheit und richtet Signale und Bindungsverhaltensweisen auch nur an spezifische Personen bzw.
Bezugspersonen. Von einer rein sozial intendierten Bindung kann noch nicht ausgegangen werden, da das Kind noch kein aktives Bindungsverhalten zeigt.
Bindungsphase (6/8 Monate bis 18 Monate)
Das Kind differenziert eigenaktiv zwischen verschiedenen Personen. Die Bezugsperson/en stellt/stellen dabei eine sichere Basis dar, von der aus die Umwelt exploriert wird. Fremden gegenüber zeigt das Kind Angst und/oder Zurückhaltung/Vorsicht. Voraussetzung für das Erkennen von Personen ist hier die Objekt- und Personenpermanenz (Person wird als dieselbe wiedererkannt). Das Bindungsverhalten des Kindes organisiert sich zu einem flexiblen Verhaltenssystem.
Differenzierungs- und Integrierungsphase (18 Monate bis 2 Jahre und darüber hinaus)
Es entwickeln sich reziproke Beziehungen. Das Kleinkind beginnt durch das Erlernen der Sprache und durch kognitive Weiterentwicklung Einfluss auf Bezugspersonen zu nehmen. Das Kind kann nun eigenes Verhalten und die Reaktion der Bezugsperson/en vorhersehen.
Diese Phase wird nochmal eingeteilt in zwei Abschnitte:
- Emergent partnership (bis 4 Jahre): Noch deutlich geprägt über körperliche Nähe – Bezugspersonen werden in Pläne einbezogen.
- Goal-corrected partnership: Emotionale Regulation erfolgt jetzt auch ohne körperliche Nähe.
Bindungstypen
Neben den Bindungsphasen hat auch die Art wie wir Bindung erleben einen Einfluss auf unser Bindungsverhalten im Laufe unseres Lebens. Dazu wurden vier verschiedene Bindungstypen/Bindungsstile definiert, die bei Kindern mittels dem Ainsworths Fremde-Situation-Test und bei Erwachsenen mit dem Adult Attachment Interview (Erwachsenen-Bindungs-Interview) beobachtet und eingeschätzt werden können.
Sicher (60–70 % der Kinder)
Sichergebundene Kinder suchen in Not/bei Angst ihre Bindungsperson/en, um sich von ihr/ihnen trösten zu lassen. Die Bindungsperson/en reagieren schnell und angemessen darauf. Die Kinder lassen sich recht schnell beruhigen und richten ihren Fokus dann wieder auf das Explorieren der Umwelt. Sie können also auf ihre sichere Basis vertrauen.
Unsicher-vermeidend (15–20 % der Kinder)
Diese Kinder haben in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass sie bei emotionaler Not keine oder kaum Hilfe bekommen. Dadurch haben sie sich „abgewöhnt“, in Notsituationen Hilfe bei ihren Bezugspersonen zu suchen und vermeiden so weitere Ablehnung. Sie wirken nach außen recht „cool“, auch wenn sie innerlich sehr angespannt sind.
Unsicher-ambivalent (10–25 % der Kinder)
Diese Kinder haben die Erfahrung gemacht, dass sie in ihrer emotionalen Not nur gesehen werden, wenn sie diese möglichst intensiv/ dramatisch äußern.
Desorganisiert-desorientiert (5–10 % der Kinder)
Hier wird davon ausgegangen, dass die Kinder evtl. traumatische Erfahrungen (z. B. Missbrauch, Vernachlässigung) gemacht haben und somit gar nicht wirklich Bindung aufbauen konnten. Dies äußert sich häufig in einem konfusen, widersprüchlichen und teils aggressiven Verhalten. Sie wirken häufig desorientiert. Diese Kinder scheinen sich auf der einen Seite der/den Bezugsperson/en nähern zu wollen und diese gleichzeitig als Quelle von Angst zu sehen, von der sie sich aber auch zurückziehen wollen.
Einflüsse auf Bindung
Epigenetische Einflüsse auf Bindung
Es gibt Studien, die Hinweise darauf geben, dass epigenetische Effekte bei der Ausprägung des Bindungsverhaltens eine Rolle spielen können und die Art und Weise, wie sich Umwelteinflüsse auf die Bindungssicherheit in der Kindheit auswirken, sowie auch die Kontinuität der Bindungssicherheit bis ins Erwachsenenalter beeinflussen können.
Kulturelle Einflüsse auf Bindung
Das Verhalten von Säuglingen in fremden Situationen ist über zahlreiche Kulturen hinweg im Großen und Ganzen ähnlich. Es konnten die verschiedenen Bindungsstile in unterschiedlichen Kulturen beobachtet werden und auch, dass die am nächsten stehende Bezugsperson als sichere Basis genutzt wird. Je nach Ländern/Kulturen konnten aber u. a. Verhaltensunterschiede z. B. in Bezug auf physische Nähe festgestellt werden. Zum Beispiel gibt es Länder (Kolumbien, Peru u. a.), in denen die Kinder sich i. d. R. weiter von der/den Bezugsperson/en entfernen als bei anderen Ländern (z. B. Portugal, Italien).
Wie sich zeigt, ist das Bedürfnis „Jemandem zur Seite zu stehen“ ein psychologisches Grundbedürfnis, dass durch verschiedenste Aspekte beeinflusst sein kann. Können wir in der Kindheit noch nicht so frei darüber entscheiden, so ist das im Erwachsenenalter schon anders. Wir können unser Bedürfnis nach Bindung genau anschauen: Was brauche ich, um dieses zu erfüllen und was sind die Schritte, die ich dafür gehen kann?
Quelle:
- Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter, R. Siegler, J. Saffran, E.T. Gershoff, N. Eisenberg, S. Pauen, Springer Verlag, 5. Auflage
- Skript der Deutschen Heilpraktikerschule®: Entwicklungspsychologie/Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter
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Dieser Beitrag wurde von Katharina Scholz, Dozentin für die Ausbildung Heilpraktiker Psychotherapie an der Deutschen Heilpraktikerschule Leipzig, verfasst.