Was ist eigentlich Selbsterfahrung?

Was ist eigentlich Selbsterfahrung?

Liebe Tochter,

du fragst mich nach den Selbsterfahrungsseminaren, die ich gebe und du möchtest gern wissen, was man da tut und wozu das alles gut sein soll.

Zuerst einmal: Diese Seminare besuchen meist Menschen, die sich beruflich verändern wollen. Häufig sind sie mit ihrem bisherigen Job nicht mehr zufrieden und suchen Veränderung. Dabei suchen sie oft auch nach Antworten für sich und wollen gern mit Menschen arbeiten. Deshalb machen sie eine Aus- oder Weiterbildung z. B. zum Heilpraktiker oder zum Coach oder ein Studium.

Stelle dir mal vor, DU würdest anfangen wollen, mit Menschen zu arbeiten und es käme jemand zu dir zur Beratung oder zur Therapie. Du hast zwar gelesen, wie man gute Fragen stellt und das auch schon mal geübt – aber eine echte Beratung hast du noch nie durchgeführt. Das ist ganz schön aufregend, wenn dir jemand gegenübersitzt, der wirklich ein echtes Problem hat!

Deshalb ist ein Teil der Selbsterfahrungsseminare das Üben von Beratungssequenzen und Gesprächsführung. Jeder Teilnehmer eines Selbsterfahrungsseminares ist zum einen Klient (oder Patient) und bringt eigene Anliegen oder Probleme mit, zum anderen ist er in der Rolle als Berater (oder Therapeut) oder als Beobachter tätig. Auf diese Weise kann in einer (fast) realen Situation geübt werden, wie man ein professionelles Beratungs- oder Therapiegespräch gestalten kann.

Du fragst dich jetzt sicher, wie das abläuft…

Am besten erzähle ich dir ein Beispiel: Das Thema in einem Seminar war „Werte in meiner Herkunftsfamilie“.  Unter „Werten“ (oder Wertvorstellungen) kann man sich Eigenschaften, Qualitäten oder Glaubenssätze vorstellen, die in der Herkunftsfamilie als erstrebenswert oder als moralisch gut befunden wurden. Jede Teilnehmerin (es waren tatsächlich lauter Frauen) schrieb Moderationskarten mit den Werten, die in ihrer Familie gelebt wurden. Es wurden viele Karten beschrieben und was da stand war z.B. „Pflichtbewusstsein“, Sparsamkeit“, „Anstrengung“ oder „Leistung bringen“. Diese Karten wurden dann wie ein großer Bilderrahmen auf dem Boden ausgelegt. Ich habe etliche andere Werte hinzugefügt, wie „Liebe“, „Genuss“, „Erfüllung“, „Vertrauen“, und so weiter. Werte, die etwas Positives ausdrücken. Es ging darum, denn Horizont der Teilnehmerinnen zu erweitern und mögliche neue Werte aufzuzeigen, die etwas Erstrebenswertes und Positives darstellen könnten. Die Werte, die die Teilnehmerinnen aufgeschrieben hatten, waren durchweg in einem problemorientierten Kontext entstanden und entsprechend wenig motivierend.

Eine der Teilnehmerinnen übte die Rolle als Therapeutin und führte durch das Gespräch, eine andere als Klientin und die dritte beobachtete das Geschehen und unterstützte bei Bedarf die Therapeutin. Die Aufgabe bestand nun darin, dass sich die Klientin zwei bis drei der Werte aussuchen sollte, um sich dann auf die jeweilige Karte zu stellen und sich in diesen Wert „einzufühlen“. Die Therapeutin sollte diesen Prozess begleiten, durch gute Fragen das Einfühlen unterstützen und der Klientin auf diese Weise helfen, neue Werte zu erkunden und zu erfühlen und – zumindest in der Vorstellung – mal zu spüren wie das wäre, wenn zum Beispiel „Genuss“ eine größere Bedeutung im eigenen Leben hätte.

Du fragst dich, ob die Person dann schon „Genuss“ als Wert hat, wenn sie sich gut eingefühlt hat?

Nein – so schnell geht das nicht. Werte verändern sich langsam, aber was auf jeden Fall passiert ist: Wir haben gemeinsam einen Prozess angestoßen. Einen Prozess, der Lust auf Veränderung macht und der auch Mut macht, vielleicht mal ein Risiko einzugehen, weil es sich einfach gut anfühlt!

Ich habe diese Klientin kürzlich wiedergetroffen. Sie erinnerte mich daran, dass ich zu den anderen Teilnehmerinnen sagte – während sie auf der Genusskarte stand: „Wir lassen sie noch eine Weile auf der Karte stehen, sie soll dieses „Genussgefühl“ voll auskosten. Gönnen wir ihr das, sie hat schon so viel gearbeitet in ihrem Leben!“ und wir dann mit dem Seminar weitermachten. Sie erzählte, dass sie seitdem oft die Augen schließt und dieses „Genussgefühl“ empfindet. Der Gedanke „ich kann und darf das genießen“ ist ihr jetzt sehr präsent und in ihr Leben ist viel mehr Ruhe und Ausgeglichenheit gekommen. Sie ist sehr glücklich darüber!

Du siehst, das „Spüren“ ist tatsächlich wichtig

Denn nur wenn sich etwas gut anfühlt, wollen wir auch etwas verändern! Allerdings ist es gar nicht so einfach, eine andere Person dabei zu unterstützen, zu Spüren oder sich Einzufühlen – bevor ich jemandem dabei helfen kann, muss ich es selbst können und erfahren haben, wie das ist. Deshalb ist Selbsterfahrung so wichtig – jeder ist mal Therapeut, Klient oder Beobachter und kann so auf jedem Gebiet dazu lernen.

Ob die jeweiligen Therapeutinnen das gut konnten?

Na ja – Übung macht den Meister. Meist ist Unsicherheit da, wenn man so eine Übung zum ersten Mal macht und dann auch noch dabei beobachtet wird… Das ist ganz normal. Richtig und falsch gibt es nicht, es gibt viele Wege und Möglichkeiten, Gespräche zu führen und es geht auch darum herauszufinden, welcher Stil zu mir als Therapeutin passt. Wichtig ist eine gute Atmosphäre zum Üben: Unsicherheiten und „Fehler“ sind willkommen, denn nur so können wir lernen und uns entwickeln! Außerdem bin ich ja da und unterstütze, wenn es mal nicht weiter gehen sollte.

Und es macht Spaß! Nicht nur mir, denn ich bin nach so einem Seminar ganz erfüllt und glücklich darüber, was die Teilnehmer alles erlebt haben und mit nach Hause nehmen. Auch die Teilnehmer sind jedes Mal dankbar für Erkenntnisse ihre eigene Person betreffend – aber auch dafür, dass sie als Therapeut etwas bei anderen bewirken konnten.

 

Dieser Blogbeitrag wurde von Ute Lorenz, Dozentin für das Fachseminar Selbsterfahrung am Standort Mülheim/Duisburg, verfasst.

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