Süchte der modernen Zeit – Teil 4: Zucker: Ein Leben ohne Zucker? Für viele unvorstellbar. Schon morgens im Müsli, mittags im Dressing, nachmittags als Nervennahrung – Zucker begleitet uns fast unbemerkt durch den Tag. Kaum eine Substanz ist so gesellschaftlich akzeptiert und gleichzeitig so unterschätzt wie diese.
Denn während Alkohol, Nikotin oder andere Drogen klar als Suchtmittel gelten, wird Zucker meist verharmlost. Doch die Forschung zeigt inzwischen deutlich: Zucker beeinflusst nicht nur unseren Stoffwechsel, sondern auch unser Gehirn – und damit unsere Psyche.
Zucker im Gehirn – die Wissenschaft hinter dem Verlangen
Zucker aktiviert im Gehirn das sogenannte Belohnungssystem, genauer: den mesolimbischen Dopaminpfad. Wenn wir etwas Süßes essen, steigt der Dopaminspiegel an – genau in demselben Areal, das auch bei Drogenkonsum aktiv ist.
Dopamin vermittelt uns das Gefühl von Freude, Motivation und „Wollen“. Genau hier liegt die Gefahr: Der Körper erinnert sich an diesen positiven Reiz und verlangt nach Wiederholung. Mit der Zeit gewöhnt sich das Gehirn an den Zuckerreiz – die Dopaminausschüttung nimmt ab, die Lust darauf jedoch bleibt. Es braucht also immer mehr, um den gleichen Effekt zu spüren. Das ist die klassische Grundlage jeder Abhängigkeitsentwicklung: Toleranzbildung und Kontrollverlust.
Die Achterbahn des Blutzuckers
Nach dem Zuckerkick steigt der Blutzucker schnell an – und fällt ebenso rasant wieder ab. Dieses Auf und Ab wirkt direkt auf unsere Psyche. Sinkt der Blutzuckerspiegel stark, schüttet der Körper Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol aus.
Die Folgen:
- Reizbarkeit,
- Nervosität,
- innere Unruhe.
Viele Menschen erleben das als Stimmungstief und greifen reflexartig wieder zu Süßem – um das unangenehme Gefühl zu kompensieren. So entsteht ein Kreislauf: kurzfristige Belohnung, gefolgt von Entzugssymptomen, die erneut kompensiert werden. Auf Dauer erschöpft dieses System nicht nur den Körper, sondern auch die emotionale Stabilität.
Zucker und psychische Gesundheit
Studien zeigen, dass ein hoher Zuckerkonsum mit einem erhöhten Risiko für verschiedene Erkrankungen z. B. Depressionen und Angststörungen einhergeht. Grund dafür ist unter anderem die Beeinflussung der Serotoninproduktion.
Serotonin – oft als „Glückshormon“ bezeichnet – wird im Gehirn gebildet. Starke Blutzuckerschwankung können die Aufnahme im Gehirn stören, was langfristig zu einer verminderten Serotoninaktivität führen kann. Das erklärt, warum sich viele nach Zucker kurzfristig besser, aber langfristig gereizter oder antriebsloser fühlen.
Zudem fördern chronische Blutzuckerschwankungen Entzündungsprozesse im Körper, die wiederum in Zusammenhang mit depressiven Symptomen stehen. Der Zuckerkick wird also zum Bumerang: kurzfristig Balsam, langfristig Belastung.
Zucker als emotionaler Ersatz
Psychologisch betrachtet erfüllt Zucker oft eine regulative Funktion: Er beruhigt, tröstet, lenkt ab. Schon in der Kindheit wird Süßes mit Belohnung verknüpft – ein Stück Schokolade nach dem Arztbesuch, ein Eis für gute Noten. Diese Konditionierung prägt sich tief ein.
Im Erwachsenenalter greifen viele unbewusst auf dasselbe Muster zurück: Zucker als schnelle Emotionsregulation. Statt Schmerz, Stress oder Einsamkeit wahrzunehmen, wird gegessen. Das Gefühl von Kontrolle entsteht kurzfristig – aber nie wirklich. Denn das emotionale Bedürfnis bleibt bestehen, nur überzuckert.
Die süße Normalität – gesellschaftliche Blindstellen
Zucker ist sozial akzeptiert, überall verfügbar und Teil fast jeder Mahlzeit. Während andere Süchte moralisch bewertet werden, wird Zuckerkonsum kaum hinterfragt.
Ein Geburtstagskuchen symbolisiert Gemeinschaft, ein Dessert Belohnung, ein süßer Snack Trost. Diese kulturelle Verklärung macht Zuckerabhängigkeit schwer erkennbar – und schwer zu thematisieren. Niemand gilt als „süchtig“, wenn er täglich Schokolade isst. Doch viele erleben, dass sie den Konsum kaum steuern können, obwohl sie es wollen.
Bewusst essen statt betäuben
Zucker ist kein Feind – aber er sollte kein Ersatz sein. Wer sein Essverhalten reflektieren möchte, kann sich fragen:
- Esse ich, weil ich wirklich Hunger habe – oder weil ich mich besser fühlen will?
- Wie reagieren mein Körper und meine Stimmung nach dem Süßen?
- Wann wird Genuss zur Gewohnheit?
Kleine Schritte wirken oft stärker als radikale Verbote: Eine Mahlzeit am Tag ohne zugesetzten Zucker, bewusster Genuss statt beiläufigen Snacks. Der Körper lernt, wieder eigene Energiequellen zu nutzen – und die Psyche profitiert mit.
Fazit
Zucker ist kein harmloser Genussstoff. Er wirkt direkt auf das Belohnungssystem, beeinflusst Hormonhaushalt, Stimmung und Stressverarbeitung. Doch der Ausweg liegt nicht im Verzicht, sondern im Bewusstsein: Zu erkennen, wann der Griff zur Schokolade ein Genuss ist – und wann ein Versuch, ein Gefühl zu betäuben. Denn die eigentliche Süße liegt nicht im Zucker, sondern im Moment, in dem wir spüren: Wir brauchen nichts, um uns gut zu fühlen – außer uns selbst.
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Dieser Beitrag wurde von Saskia Ewers verfasst. Sie ist stellvertretende Schulleiterin, Koordinatorin und Dozentin der Deutschen Heilpraktikerschule Mülheim/Ruhr, zertifizierte Psychologische Beraterin, Kinder-, Jugend- und Familienberaterin, Schematherapeutin und Entspannungspädagogin sowie Pädagogische Fachkraft in der Inklusion.
