Die vergessliche Erinnerung (Alzheimer-Demenz): Sigmund Freud beobachtet Paula Fichtl, wie sie jedes Jahr zu Ostern den Palmkätzchen-Strauch im Garten mit farbenfrohen Bändern verziert. Das ist neben dem Eierpecken ein sehr beliebter Brauch in Österreich. Nur irgendwie wirkt sie diesmal dabei nicht so glücklich wie all die anderen Jahre zuvor bei der Palmweihe.
Paula Fichtl kam mit jungen 27 Jahren als Dienstmädchen in den Freud’schen Haushalt in die Berggasse 19. Als „erstes Stubenmädchen“ kümmert sie sich um die Freud‘schen Wohn- und Behandlungsräume. Sigmund Freud nennt sie seine „Kleine“, mit der er seine Hundeliebe teilen kann. Auch umsorgt sie den zu diesem Zeitpunkt bereits kranken, aber unablässig arbeitenden Freud nach besten Kräften – und viele seiner PatientInnen gleich mit, wenn sie diesen vor oder nach der Therapiesitzung Kaffee und Kuchen serviert. Ganz besonders Frau Winnifred Puder.
Umso mehr wundert sich Freud nun über seine „Kleine“. Als Paula im Garten fertig ist, nimmt er sie zur Seite und fragt sie nach ihrem Befinden. Nur zögerlich rückt sie mit der Sprache raus. Da ihre Mutter früh verstarb und ihr Vater bei der Eisenbahn arbeitete, kamen Paula und ihre Schwester Maria bei einem älteren Ehepaar unter. Die Mädchen liebten die beiden, als wenn es ihre Großeltern gewesen wären. Allerdings sorgten sie sich nun zunehmend um deren Gesundheitszustand. Und weil Sigmund Freud seiner Paula helfen möchte, lädt er das Ehepaar Moser zu sich in die Praxis ein.
Joseph und Juliana Moser nehmen, wie schon viele andere zuvor, Platz auf der Freud´schen Couch. Juliana schildert wie bei Joseph die Krankheit schleichend, nahezu unmerklich begann. Vereinzelte Gedächtnislücken und Stimmungsschwankungen traten immer gehäufter auf. Er konnte sich einfache Aufgaben nicht mehr merken, bekam Schwierigkeiten, gewohnte Tätigkeiten auszuführen. Dies versuchte er zu vertuschen und wurde wütend, wenn man ihn daraufhin ansprach. Depressive Symptome, Selbstunsicherheit sowie eine emotionale Labilität prägten nach und nach den sonst so agilen, ausgeglichenen und lebensfrohen Mann an ihrer Seite. Irgendwann fand er sich in seiner vertrauten Umgebung immer weniger zurecht, beschimpfte seine Frau, dass sie oder Paula Dinge verstecken würde und blieb hartnäckig dabei, dass dies die Fehler der anderen seien. Joseph Moser merkte, dass etwas in seinem Kopf vor sich ging, schämte sich dafür und fühlte sich mehr und mehr innerlich leer und dem Ganzen hilflos ausgesetzt. In den letzten Wochen zog er sich zusehends zurück, wurde einsilbiger und brach manchmal seinen Gedanken mitten im Satz ab. Seit über einem halben Jahr beobachtet seine Frau die Veränderungen bei Joseph und erlebt diese als kontinuierliches, phasenweises Sterben der Persönlichkeit ihres Mannes. Zunehmend leide auch sie unter der Überforderung und Ausweglosigkeit.
Alzheimer-Demenz
Freud diagnostiziert bei Joseph Moser eine Alzheimer-Demenz im fortgeschrittenen Stadium. Gemeinsam mit Paula Fichtl und Juliana Moser erarbeiten sie ein umfangreiches Behandlungskonzept. Aufhalten kann es die Krankheit nicht, aber verzögern. Ziel ist es, die Lebensqualität aller von Alzheimer-Demenz Betroffenen zu verbessern, verbliebene Fähigkeiten zu trainieren und das Selbstwertgefühl von Herrn Moser zu stabilisieren. Auch hängt das Wohlbefinden von der Einstellung der Umwelt ab. Diese sollte Orientierungshilfen schaffen, Sinne schulen und weitere Stützen schaffen. Mittels mehrerer Therapiemethoden sollen insbesondere die kognitiven Fähigkeiten gestärkt, die Verhaltens- und Affektdysfunktionen verringert und ein Umgang mit den zunehmenden Verlusten erlernt werden. Bewährt haben sich Kunst- und Gestalttherapien, Entspannungsverfahren sowie viele kognitions- und gefühlsorientierte Verfahren.
Ein besonderer Stellenwert wird auch der Angehörigenarbeit beigemessen. Neben der physischen Erschöpfung kommt die psychische Belastung hinzu. Gefühle von Wut, Trauer, Zukunftspessimismus, Hilflosigkeit und Überforderung belasten den Angehörigen schwer. Sie trauen sich kaum noch, den Betroffenen der Alzheimer-Demenz alleinzulassen, ziehen sich zurück, isolieren sich von ihrem Umfeld und opfern sich auf. Oftmals verstehen sie die Welt und das Verhalten des Demenzkranken nicht. Man vermutet, dass unbewusste Abwehrmechanismen wie die Regression dazu führen, dass innerhalb einer Beziehung der Beteiligten eine Art Mutter-Kind-Beziehung entsteht. Der Betroffene selbst fällt in frühere Entwicklungsstufen seiner Kindheit und verhält sich dementsprechend. Einerseits wird die überfürsorgliche Hilfestellung gesucht, andererseits aber auch abgelehnt. Gerade für Angehörige ist dies schwierig nachzuvollziehen. Je hilfsbedürftiger und abhängiger der Demenzkranke wird, umso mehr fühlen sich nahestehende Personen verantwortlich. Psychotherapeutisch bedarf es Unterstützung für die Angehörigen. Ziel ist es, Entlastung zu schaffen, eigene Bedürfnisse zu spüren und auszuleben und auch der sozialen Isolation entgegenzuwirken.
Mit all den vielen neuen Erkenntnissen und Perspektiven begibt sich das Ehepaar Moser nun auf dem Heimweg. Überall auf den Straßen begegnen den beiden Familien mit Kindern, die auf der Suche nach Ostereiern sind. Plötzlich bleibt Herr Moser stehen und betrachtet all die Menschen um ihn herum. Juliana nimmt ihn währenddessen zärtlich in den Arm, blickt ihn voller Liebe an und bestätigt im Grunde das, was Joseph beobachtet.
Irgendwie sind wir alle auf der Suche.
Der eine nach Ostereiern, der andere nach dem Sinn seines Lebens und Joseph nach seiner Erinnerung.
Quellen:
https://sbt-in-berlin.de/cip-medien/09.-Hirsch.pdf
http://www.padd.at/people/10037?locale=de
https://www.sn.at/leben/lifestyle/traditionelle-osterbraeuche-in-oesterreich-und-den-nachbarlaendern-7272976
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/pflege/online-ratgeber-demenz/krankheitsbild-und-verlauf.html
Diese Geschichte ist Teil der Beitragsreihe Sprechstunde bei Dr. Freud. Hier werden psychische Störungen in einem fiktionalen Kontext vorgestellt. Die Texte erheben keinen Anspruch auf historische Korrektheit.
Teil 1: Die traurige Traurigkeit | Teil 2: Die nimmersatte Esssucht | Teil 3: Der einsame Sammler | Teil 4: Die heimliche Krankheit | Teil 5: Die gesunde Angst | Teil 6: Die theatralische Hysterie | Teil 8: Der leise Abschied
Hier finden Sie alle Informationen zu unseren Ausbildungen zum Heilpraktiker für Psychotherapie:
Dieser Beitrag wurde von Enikö Orbán, Geschäftsbereichsleiterin Fachbereich Psychotherapie der Deutschen Heilpraktikerschule Leipzig, verfasst.
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