Die theatralische Hysterie (histrionische Persönlichkeitsstörung): Madame Ophelia legt mal wieder einen dramatisch-theatralischen Auftritt hin, als sie die Praxis von Sigmund Freud betritt. Mit einer überschwänglichen Begrüßungszeremonie fällt sie Freud um den Hals und begrüßt den ihrer Aussage nach besten Therapeuten der Welt. Sie schmeichelt, kokettiert und berichtet gleich unaufgefordert dramatisch von den Ereignissen als Schauspielerin bei den Wiener Festspielen. Jofie, Freuds geliebte Chow-Hündin, schaut kurz auf, schnieft einmal tief und laut und erntet sogleich einen missbilligenden Blick von Madame Ophelia. Die bloße Anwesenheit dieses Hundes verändert schlagartig ihre Stimmung. Jedes Mal ist sie eifersüchtig auf Freuds „Co-Therapeutin“, die stets an den Sitzungen teilnimmt. Im Gegensatz zu Sigmund Freud meistert Jofie die anstrengenden Sitzungen mit Madame Ophelia bravourös und legt sich wieder entspannt zurück zu Freuds Füßen.
Die süße Parfümwolke, welche Ophelia umgibt, vermischt sich für einen kurzen Moment mit dem in der Praxis permanent vorherrschenden Tabakduft. Bei Freud setzen schlagartig Kopfschmerzen ein. Ob es an dem aufdringlichen Duftgemisch oder aber an der schrillen und lauten Stimme Madame Ophelias liegt, weiß er nicht. Wahrscheinlich ist es eine Kombination aus beidem.
Madame Ophelia hat sich auch diesmal im Hinblick auf ihr äußeres Erscheinungsbild selbst übertroffen. Ihr glamouröses Kleid mit dem Fascinator ist nicht einmal ansatzweiße dem Anlass entsprechend. Für den perfekten und extravaganten Auftritt investiert sie gern viel Geld, Geduld und Zeit. Aufmerksamkeits-Zentrierung auf die eigene Person nennt man das. Aber das kennt Freud bereits von seiner Patientin.
Madame Ophelias Verhalten ist in vielerlei Hinsicht übertrieben, egozentrisch und unangepasst. Stets ist sie auf der Suche nach Bewunderung und Anerkennung. Als ihr Therapeut muss Freud ihr besonders viel Aufmerksamkeit schenken. In den Sitzungen mit ihr bedarf es einer großen Schwingungsfähigkeit seinerseits, denn innerhalb von wenigen Augenblicken kann es zu extremen Stimmungsschwankungen bei Madame Ophelia kommen. Gerade noch voller Enthusiasmus und scheinbarer Offenheit, manchmal sogar für Freud ein bisschen zu offen und verführerisch, kommt es zu melodramatischen Reaktionen. Von Wutausbrüchen bis zu unkontrollierten Weinkrämpfen kann alles vorkommen. Oft beschreibt sie ihre seelischen und körperlichen Beschwerden übertrieben, ja sogar jammernd und klagend.
Die histrionische Persönlichkeitsstörung
Selbstdramatisierung, emotionale Instabilität, Suggestibilität (leichte Beeinflussbarkeit durch andere) verführerisches und unangemessenes verführerisches Verhalten sind Charakteristika der histrionischen Persönlichkeitsstörung.
Fortlaufend muss sie sich in den Mittelpunkt drängen, sucht nach Anerkennung und Liebe, versucht verzweifelt ihre eigenen Wünsche zu befriedigen und merkt dabei gar nicht, dass dies der Grund dafür ist, weshalb sie oft verlassen wird. Madame Ophelia ist nicht in der Lage, ihr Verhalten zu reflektieren und sie würde nicht im Traum darauf kommen, dass die zwischenmenschlichen Probleme durch ihr eigenes Handeln verursacht werden. Sogar das Gegenteil ist der Fall. Gerade deswegen fühlt sie sich in ihrer Annahme bestätigt, den Menschen nicht wichtig genug zu sein. Ihnen nichts bieten zu können, ungenügend zu sein. Das wiederum führt dazu, dass sie noch mehr jammert, klagt und um Aufmerksamkeit buhlt. Beziehungsmotive von Menschen mit histrionischer Persönlichkeitsstörung sind Wichtigkeit und Verlässlichkeit. Durch ihre Lernerfahrung jedoch, haben sie häufig Angst vor Hingabe und Liebesverlust. Ein Histrioniker wünscht sich im Grunde die zentrale Rolle im Leben anderer Personen zu sein, gehört und beachtet zu werden, aber auch eine verlässliche Beziehung zu haben. Eine, die nicht gleich wieder gekündigt wird.
Aus psychoanalytischer Sicht geht man von einer gestörten Eltern-Kind Beziehung aus. Oftmals sind die Eltern distanziert, kontrollierend und im Umgang mit dem Kind wenig liebevoll, eher unterkühlt. Die Betroffenen fühlen sich nicht geliebt und sind in ständiger Angst verlassen zu werden.
Durch diese unsicheren Bindungen entwickelt sich eine ausgeprägte Selbstwertproblematik sowie dysfunktionale Überzeugungen. Wie z.B. immer jemanden zu brauchen, der einen versorgt, da man selbst meint, unfähig dazu zu sein. Oder das Gefühl zu haben unzulänglich zu sein und damit auch sein Leben nicht bewältigen zu können. Anstatt deshalb in depressive Verhaltensmuster zu rutschen, fängt der Histrioniker an, sich die Aufmerksamkeit aktiv-aggressiv einzufordern. Seine Art der Konfliktlösung besteht darin, durch seine übertriebene Emotionalität und auch sein exzentrisches Auftreten, die innere Leere zu füllen und das starke Bedürfnis nach Lob und Anerkennung sowie Unterstützung zu befriedigen.
Für Sigmund Freud liegt schon seit einigen Sitzungen die größte Herausforderung darin, Madame Ophelia einen Zugang zu ihren dysfunktionalen Schemata zu verschaffen. Sie muss lernen, sich „authentisch“ zu zeigen und den alten Glaubenssatz zu verwerfen, dass sie, wenn sie sich zeigt, wie sie ist, von anderen abgelehnt wird. Schritt für Schritt soll sie ihr konfliktbehaftetes Verhalten verändern. Auch die Erkenntnis, dass die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse nicht durch andere erfolgt, sondern nur durch einen selbst, führt langfristig zu positiveren zwischenmenschlichen Beziehungen. Ziel der Therapie ist demzufolge die Entwicklung eines stabileren Selbstbildes, Stärkung der Selbstkontrolle und Reduzierung der Sprunghaftigkeit.
Für Freud als Therapeuten ist es umso wichtiger, die therapeutischen Regeln strikt einzuhalten. Gerade bei Madame Ophelia ist dies zwingend erforderlich. Umso dankbarer ist er für seine Co-Therapeutin Jofie, die immer instinktiv bemerkt, wenn ihr Herrchen die Sitzung beenden möchte. Und auch diesmal ist auf das kluge Tier Verlass. Jofie erhebt sich ganz gemütlich und springt Sigmund Freud auf den Schoß, als Zeichen dafür, dass die Sitzung zu beenden ist. Das wiederum sorgt bei Madame Ophelia für einen kurzen Wutausbruch, da der Hund ihr die Aufmerksamkeit ihres Therapeuten stielt und sich damit in den Mittelpunkt drängt. Aber das wird Herr Freud bei der nächsten Sitzung ausführlich mit seiner Patientin besprechen.
Quellen:
https://www.nzz.ch/articleE2E9T-1.29062
https://www.ipp-bochum.de/n-kop/histrionische-und-narzisstische-persoenlichkeitsstoerungen_2.pdf
https://www.psychosoziale-gesundheit.net/pdf/Int.1-Hysterie.pdf
https://www.therapie.de/psyche/info/index/diagnose/persoenlichkeitsstoerungen/histrionisch/
Diese Geschichte ist Teil der Beitragsreihe Sprechstunde bei Dr. Freud. Hier werden psychische Störungen in einem fiktionalen Kontext vorgestellt. Die Texte erheben keinen Anspruch auf historische Korrektheit.
Teil 1: Die traurige Traurigkeit | Teil 2: Die nimmersatte Esssucht | Teil 3: Der einsame Sammler | Teil 4: Die heimliche Krankheit | Teil 5: Die gesunde Angst | Teil 7: Die vergessliche Erinnerung | Teil 8: Der leise Abschied
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Dieser Beitrag wurde von Enikö Orbán, Geschäftsbereichsleiterin Fachbereich Psychotherapie der Deutschen Heilpraktikerschule Leipzig, verfasst.
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