Die nimmersatte Esssucht – Winnifred Puder, dieses geschwätzige Weib, kostet Sigmund Freud immer, wenn sie da ist, ganz schön viele Nerven. Sie ist zwar eine enge Vertraute seiner Frau Martha, aber er sieht sie dennoch lieber gehen als kommen.
Eigentlich ist Winnifred Puder heute mit seiner Frau Martha Freud verabredet, jedoch ist sie zu dieser frühen Abendstunde noch einmal unterwegs, um irgendeine Besorgung zu erledigen. Vor der Tür kann und will er die Freundin seiner Frau nun auch nicht warten lassen. Das würde ihm Martha niemals verzeihen, wenn er sich so unhöflich und wenig gastfreundlich verhält. Und abgesehen davon bricht auch schon langsam die Abenddämmerung herein. So bleibt Sigmund nichts anderes übrig als sie in seine Praxis hereinzubitten.
Innerlich leicht genervt, bietet er ihr einen Stuhl an.
Seine geliebte Couch wird ausschließlich für therapeutische Gespräche genutzt. Er möchte ihr nämlich nicht noch das Gefühl vermitteln, sich ihm gegenüber öffnen zu dürfen. Einen vagen Diagnoeseverdacht hat er zwar schon, jedoch ist jetzt weder die richtige Zeit noch der richtige Rahmen für eine Sitzung. Freud erwägt, ihr vielleicht tatsächlich mal einen separaten Termin anzubieten. Aber nicht heute. Heute erwartet er die Mitglieder seiner Psychologischen Mittwochs-Gesellschaft, um über psychoanalytische Behandlungen und psychoanalytische Theorien zu diskutieren.
Seine Praxis ist entsprechend auch schon vorbereitet. Sogar für das leibliche Wohl wurde gesorgt: Eine köstliche und gehaltvolle Wiener Sachertorte steht auf dem Tisch. Diese wurde direkt bei seiner Lieblingskonditorei Café Landtmann bestellt und vorhin erst abgeholt.
Na und ehe Freud sich versieht, geschweige denn eingreifen kann, setzt sich Winnifred Puder an den Tisch und greift beherzt nach einem großen Stück Torte. Schon nach dem ersten Bissen und mit vollem Mund fängt sie an, ihm nun doch ihr Leid zu klagen.
Seit mehr als sechs Monaten wird sie sehr engmaschig von einer Art Esssucht heimgesucht.
Sie kann während dieser Essanfälle kaum kontrollieren, was und wie viel sie in sich hineinstopft. Ein wirkliches Sättigungsempfinden stellt sich selten bis gar nicht ein.
Ohne es zu bemerken, packt sich Winnifred Puder ungefragt bereits das dritte Stück Torte auf den Teller und erzählt weiter. Darüber, wie schuldig sie sich fühlt und wie unangenehm ihr das ist, ja sogar, wie sehr sie sich dafür schämt. Ihr Mann bekommt davon nichts mit, denn einerseits ist er selten zu Hause und andererseits interessiert er sich eh schon seit langem nicht mehr für sie. Lediglich die stetig steigenden Ausgaben für Lebensmittel haben ihn schon einmal stutzig gemacht. Aber das konnte sie ihm bis jetzt immer gut begründen.
Wenn sie diese Esssucht heimsucht, dann schleicht sie sich heimlich in die Küche und stopft schnell alles an fettreichen und süßen Lebensmitteln in sich hinein. Sie versucht, es geheim zu halten, indem sie sich immer mehr zurückzieht und ihre sozialen Kontakte vernachlässigt. Nur der Martha ist eine Veränderung aufgefallen und sie war auch diejenige, die sich heute mit ihr treffen wollte. Deswegen ist sie gerade sehr irritiert, denn üblicherweise kommt Martha nie zu spät.
Als Frau Puder beim 6 Stück Torte angelangt ist und Freud sich schon wenig Hoffnung macht, dass von der Torte noch etwas übrigbleibt, fragt er sie nach ihrem Gefühlsleben. Und wie er es schon ahnte, leidet sie massiv unter dieser Esssucht. Nicht nur, weil sie sie nicht kontrollieren kann, sondern auch, weil mittlerweile eine deutliche Gewichtszunahme zu erkennen ist.
Von Kompensationsmaßnahmen wie Erbrechen nach den Attacken sieht sie aber ab. Das ekelt sie noch mehr an. Genauso wenig betreibt sie exzessiven Sport, um das Gewicht regulieren zu können. Allerdings rate ihr ihr Hausarzt langsam zu einem gesünderen Essverhalten, denn das Risiko für viele körperliche Erkrankungen wie etwa Herz-Kreislauf-Störungen, Diabetes oder Gelenkerkrankungen erhöht sich durch die Esssucht. Auslöser dafür kann sie irgendwie für sich selbst nicht erkennen, jedoch spüre sie seit einiger Zeit eine Einsamkeit gepaart mit Selbstzweifeln. Ihr Mann hat sich zwar schon immer mehr für seine Arbeit interessiert als für sie, aber in letzter Zeit nimmt er sie überhaupt nicht mehr wahr und das nagt zunehmend an ihrem Selbstbewusstsein. Das übermäßige Essen stopfe so ein innerliches Loch und hilft ihr irgendwie mit ihren Ängsten, der Überforderung, ihrem Ärger und der Wut auf ihren Mann, fertig zu werden. Mit einer gefühlten Machtlosigkeit verliert sie mehr und mehr die Kontrolle über ihre gesamte Lebenssituation.
Kommentarlos überlässt Freud ihr nun auch das letzte Stück Torte. Das hätte eh nicht mehr für alle gereicht. Außerdem ist ihm klar geworden, dass Winnifred Puder durch die orale Zufuhr dieser großen Nahrungsmenge in so kurzer Zeit eine Spannungsreduktion herbeiführt. Dieses Vermeidungsverhalten unterdrückt unangenehme Empfindungen während des Essensvorgangs und stellt eine Befriedigung von emotionalen Bedürfnissen dar, welche sonst unerfüllt bleiben.
Da das Essverhalten von Winnifred Puder einer Suchtdynamik folgt und eine tiefergehende Verbesserung erst mit einer Auflösung der beschriebenen Problematik möglich wird, bietet er ihr dann doch einen Termin bei ihm in der Sprechstunde an. Gerade als die beiden diesen für die kommende Woche ausmachen, erscheint seine Frau Martha. Mit ihrem bezaubernden Lächeln und einer Verpackung in der Hand, betritt sie Freuds Praxis. Wortlos schreitet sie auf ihren Mann zu, haucht ihm einen zarten Kuss auf die Wange, zwinkert ihm unauffällig zu und reicht ihm eine neue Wiener Sachertorte aus dem Café Landtmann für seine psychologische Mittwochs-Gesellschaft. Leise flüstert sie ihm ein liebevolles Danke ins Ohr und begleitet Winnifred Puder hinaus.
Noch verträumt von dieser warmen und sanften Geste denkt er über die letzten 30 Minuten nach. Lauthals lachend wird ihm langsam klar, was seine Frau hier eingefädelt hat und ist verliebter denn je in sie.
Das Störungsbild der Binge-Eating Disorder wird 1959 von Albert Stunkard erstmals beschrieben.
Diese Geschichte ist Teil der Beitragsreihe Sprechstunde bei Dr. Freud. Hier werden psychische Störungen in einem fiktionalen Kontext vorgestellt. Die Texte erheben keinen Anspruch auf historische Korrektheit.
Teil 1: Die traurige Traurigkeit | Teil 3: Der einsame Sammler | Teil 4: Die heimliche Krankheit | Teil 5: Die gesunde Angst | Teil 6: Die theatralische Hysterie | Teil 7: Die vergessliche Erinnerung | Teil 8: Der leise Abschied
Hier finden Sie alle Informationen zu unseren Ausbildungen zum Heilpraktiker für Psychotherapie:
Dieser Beitrag wurde von Enikö Orbán, Geschäftsbereichsleiterin Fachbereich Psychotherapie der Deutschen Heilpraktikerschule Leipzig, verfasst.
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