Wozu brauchen wir eine Männerheilkunde – dafür gibt es doch Urologen?

Wozu brauchen wir eine Männerheilkunde – dafür gibt es doch Urologen?

Allzu oft wird Männerheilkunde (Andrologie) auf eine etwas erweiterte Therapieform des Harnapparates und der Geschlechtsorgane des Mannes reduziert. In der Tat bilden auf den ersten Blick Funktionen und Beschwerden des Urogenitalbereiches einen wichtigen Teil dessen, was in diesem medizinischen Feld behandelt wird.

Bestimmte Bereiche wie akute Verletzungen, Geschlechtskrankheiten oder anatomische Veränderungen gehören selbstverständlich in ärztliche Hand, da chirurgische Eingriffe bzw. Antibiotikagaben nicht zum Metier des Heilpraktikers gehören. Dennoch gibt es zahlreiche Aspekte, in denen die Naturheilkunde hier tiefgreifende Wirkungen entfalten kann.

Einsatz von Heilpflanzen bei Blasenentzündungen

Akute Blasenentzündungen kommen bei Männern aufgrund der langen Harnröhre nicht so häufig vor wie bei Frauen, bilden jedoch mit der Reizblase („Konfirmantenbläschen“) einen Bereich, der naturheilkundlich gut zu behandeln ist. Zahlreiche Heilpflanzen wirken entwässernd, was die Harnwege durchspült – so können Entzündungen vorgebeugt und behandelt werden, außerdem wird die Entgiftung des Körpers über die Nieren angeregt. Geeignet wären hier etwa Löwenzahn, Schachtelhalm, Birkenblätter, Orthosiphon (der bekannte „Nieren- und Blasentee“) oder die Goldrute. Die antibakterielle Tendenz verstärkt sich noch, wenn der Urin angesäuert werden kann oder die Heilpflanzen über Scharfstoffe verfügen, wie etwa bei Cranberries, Sauerampfer, Kapuzzinerkresse oder Meerrettich.

Ein breit wirksames Phytotherapeutikum für die Harn- und Geschlechtsorgane ist auch die Brennnessel: durch ihre harntreibende Wirkung ihrer Blätter wirkt sie entzündungshemmend, ihre Mineralien kräftigen den Beckenboden wie auch den gesamten Körper. Die Wurzel besitzt Vorstufen des Hormons Testosteron, weshalb sie bei unerfülltem Kinderwunsch zum Einsatz kommen kann.

Schon anatomisch gesehen nimmt die Prostata mit zunehmendem Alter bei Männern eine immer größere Bedeutung an: Jenseits des 50. Lebensjahres sind über 50% von einer Prostatavergrößerung und oft damit verbundenen Beschwerden betroffen. Hier finden Heilpflanzen wie Pappelknospen, Weidenröschen, Sägepalmenfrüchte oder Kürbissamen Anwendung, um das übermäßige Wachstum zu bremsen oder zumindest die Beschwerden beim Wasserlassen zu reduzieren.

Einsatz von Heilpflanzen bei Erektionsstörungen

Eine weitere Beeinträchtigung erfährt das männliche Wohlbefinden (nicht nur) in fortgeschrittenen Jahren durch Erektionsstörungen, die psychische wie auch körperliche Ursachen haben können und sich mit Heilpflanzen effektiv behandeln lassen, unter anderem dem Potenzholz, Damiana oder der Ginsengwurzel. Das breite Spektrum der Aphrodisiaka beinhaltet darüber hinaus neben körperlich wirksamen lustanregenden Heilpflanzen auch eine breite Palette an stimmungsaufhellenden, entspannenden Aspekten. So lohnt sich ein tieferer Blick auf ihre zahlreichen Vertreter wie etwa Kakaobohnen, Vanille, Lavendel, Rosenblüten oder Rosmarin.

Was also macht dann eine Männermedizin noch aus?

Meistens gibt es doch eher die Kritik, die medizinische Versorgung und ihre zugrundeliegenden Standards orientierten sich noch zu sehr an Männern in mittleren Jahren, um anderen Lebensaltern und erst recht dem anderen Geschlecht gerecht werden zu können. Tatsächlich benötigen Frauen aufgrund psychologischer, physiologischer oder hormoneller Unterschiede bei gleichen Beschwerden teilweise unterschiedliche Dosierungen der Heilmittel oder auch ganz andere Medikamente als Männer. Auch drücken sich Erkrankungen mitunter durch andere Symptome aus, z.B. weichen die Beschwerden eines Herzinfarktes bei Frauen häufig von dem „klassischen“ Bild ab, das meistens bei Männern beobachtet wurde.

Es gibt aus dem naturheilkundlichen bis esoterischen Bereich zwar diverse Angebote im Bereich der Selbsterfahrung, bei denen gemeinsam das innere Kind geheilt, das „männliche Herz“ artikuliert, schamanische Entwicklungsreisen vollzogen oder ein positiver Kern von Männlichkeit entdeckt werden soll. Auch wenn einiges sicher hilfreich sein kann, werden diese Ansätze auf eine relativ begrenzte Zielgruppe beschränkt bleiben. Daher bleibt die Frage nach einer umfassenden männerspezifischen Heilkunde, die neben der Sexualität und den Harnwegen weitere wichtige Aspekte des alltäglichen Lebens mit einbezieht, noch ohne überzeugende Antwort.

Männlichkeit – eine Frage der Erziehung

Gerade Männer im fortgeschrittenen Alter haben eine Sozialisation erfahren, die sich in diversen Bereichen als ungesund herausstellen kann. Nach dem Motto „Nicht weinen, ein Indianer kennt keinen Schmerz“, „Zähne zusammenbeißen“ oder „Augen zu und durch“ wurde vielen Männern bereits als Kindern beigebracht, dass von ihnen erwartet wird, Gefühle von Schwäche, Unsicherheit und Verletzung zu unterdrücken. Manche Männer haben generell Schwierigkeiten, ihre Gefühle auszudrücken oder auch nur bei sich selbst wahrzunehmen und zu reflektieren. Ein Mann habe stark zu sein – auch um dem vermeintlich schwächeren Geschlecht die dringend benötigte Stabilität und Unterstützung zu gewähren. Der oft ungesunde tägliche Stress des Arbeitslebens erscheint dann als unvermeidbarer Teil des Kampfes, dem Mann sich zu stellen hat, anstatt auf die Signale von Körper, Seele und Geist zu achten und sein Leben bzw. Verhalten entsprechend anzupassen.

Auch wenn sowohl das Modell der Kernfamilie wie auch die „klassischen“ Geschlechterrollen in den letzten Jahrzehnten einen tiefgreifenden Wandel erfahren, wirken diese alten Prägungen immer noch. Sie führen zu einem weiterhin deutlichen Bild: Männer leben im Schnitt immer noch 5 Jahre weniger als Frauen. Sie neigen eher zu schädlichen Exzessen wie Drogen- oder Alkoholkonsum bzw. -missbrauch, sind häufiger körperlich gewalttätig und haben ein extremeres Risikoverhalten. Die Ernährung ist oft ungesünder und Mann kümmert sich weniger um sein emotionales bzw. seelisches Wohlergehen als Frauen. Schlaganfälle, Herzinfarkte und andere akute Notfälle kommen bei Männern häufiger vor als bei Frauen. Sie neigen zudem eher zu Lungenkrebs, Darmkrebs, Magengeschwüren, Übergewicht oder erhöhtem Blutdruck.

Ein neu gedachter, umfassender Ansatz der Andrologie oder Männerheilkunde, muss also neben naturheilkundlicher Behandlung auch die Lebensweise vieler Männer mit einbeziehen, ihr Bezug zu sich selbst und ihrer Umwelt, Ernährung, Gestaltung des Alltags und besonders das Bewusstmachen und den Ausdruck von Gefühlen. Und Letzteres eben auf einer Ebene, die allen Männern zugänglich ist, weil sie da abgeholt werden, wo sie gerade stehen!

Die Notwendigkeit eines ganzheitlicheren, naturheilkundlichen Entwurfs einer Männerheilkunde wird seit ein paar Jahren zunehmend artikuliert, die Umsetzung und Ausgestaltung steckt aber insgesamt noch in den Kinderschuhen. Wer sich aus beruflichen oder persönlichen Gründen für einen tieferen Einblick interessiert, ist herzlich zu unserem Modul Männerheilkunde der Fachausbildung Phytotherapie eingeladen. Es orientiert sich im Wesentlichen an einem klassischen Verständnis von Männerheilkunde, soll aber dennoch darüber hinausgehen, auch entsprechend der Interessen und Bedürfnisse der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Dieses Wochenendseminar findet an der Deutschen Heilpraktikerschule Leipzig am 10./11. November 2018 in Leipzig statt.

 

Dieser Beitrag wurde von Martin Zwiesele, Dozent für Phytotherapie an der Deutschen Heilpraktikerschule Leipzig, verfasst.

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