In unserer neuen Reihe Wie im Film beleuchten wir Phänomene aus der Welt der Psychotherapie. Dabei steht die Verknüpfung eines Störungsbildes, in diesem Fall der Anterograden Amnesie, mit der filmischen Umsetzung im Fokus. Am Ende wird der Bogen zur psychotherapeutischen Behandlung geschlagen. Heute: Memento
Anterograde Amnesie
Wer seinen Psychopathologischen Befund gut kennt, der ist jetzt überrascht, denn diese Störung steht nicht im Kapitel F der ICD-10, also nicht bei den Psychischen Störungen, sondern im Kapitel R „Sonstige Symptome und abnorme Laborbefunde“ mit der Ziffer R41.1. Bei dieser nach einem Unfall oder Ereignis in die Zukunft gerichteten Amnesie können neue Fakten nicht vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis übergehen. Der Patient hat nur noch seine Erinnerungen aus dem Leben vorher. Ein Nachher gibt es nicht.
Memento = Mahnung
In Christopher Nolans Film Memento sucht der Hauptdarsteller Lenny Shelby (Guy Pearce) nach dem Mann, der seine Frau vor 3 Jahren umgebracht hat. Lenny selber erlitt bei dem Überfall eine schwere Kopfverletzung und hat seither eine anterograde Amnesie. Nur für 10 bis 15 Minuten kann er sich auf eine Situation konzentrieren, verliert dann den Faden, weiß nicht mehr, worüber gesprochen wird, mit wem er spricht, was wichtig ist und was nicht. Irgendwie kommt er zurecht und kompensiert diese Unfähigkeit, indem er sich selbst Hinweise auf Brust, Arme und Beine tätowiert, sich Wichtiges notiert, und Polaroids von Orten und Personen macht, die er ständig mit sich herumträgt und immer wieder checkt. Eins seiner Tattoos lautet „Erinnerung ist Verrat“ ein anderes „I´ve Done It.“ Wahrheiten oder Mahnungen?
Live eine Amnesie erleben
Memento, das sich wie „Momente“ liest, erzählt die Geschichte in der Zeit rückwärts laufend. Häppchenweise und verwirrend, so wie man sich fühlen muss, wenn man ein Erinnerungsproblem wie Lenny hat. Auch der Zuschauer muss mühsam zusammentragen, was passiert ist. Farbige und schwarz-weiße Szenen wechseln sich ab, haben in etwa die Länge, die Leonard Shelby sich merken kann. Flashbacks aus Lennys Zeit als Versicherungsdetektiv tauchen auf, zeigen, wie ein damaliger Kunde seine Frau mit einer Überdosis Insulin umbringt. Dann wieder sind es Segmente aus der Echtzeit und Lenny trifft den Polizisten Teddy und eine Freundin Natalie, die ihm helfen wollen, den Mörder zu finden.
Opfer von Manipulation
Schnell wird dem Zuschauer allerdings klar, dass man sich bei Teddy nicht sicher sein kann, ob er ein Freund ist. Er nutzt Lennys Zustand aus und findet es praktisch, einen Drogendeal mit einem Unterhändler zu machen, der sich an nichts erinnern wird. Auch mit Natalie entgleitet es langsam, aber sicher, sie plant eine persönliche Abrechnung, ohne dass sie sich selber die Finger schmutzig machen muss, das soll Lenny für sie tun. Jeder macht mit Lenny, was er will und hat sein ganz eigenes Interesse an dieser speziellen Störung. Aber so leicht ist es nicht mit ihm umzuspringen. Am Ende gibt es mehr Leichen als am Anfang.
Nur der, der er war
Memento ist nicht nur ein äußerst eindrücklicher Film über eine fehlende Gedächtnisleistung. Er spricht auch das Thema „Identität“ an: Wer ist man, wenn man nur noch eine Vergangenheit hat? Immer noch der von vor 3 Jahren? Wie schafft man sich eine neue Identität nach einem Trauma? Indem man sich mit dem Erlebnis beschäftigt? Reicht das aus? Was würde sonst noch in einer Therapie mit solch einem Patienten gemacht? Alltagsbewältigung, andere Kompensationsstrategien? Könnte man Rachegelüste wegtherapieren? Und nicht zuletzt bleibt die Frage im Raum stehen: Ist Vergessen ein Schutz gegen zu viel Wissen?
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