Die gesunde Angst (generalisierte Angststörung). Drei Jahre ist es nun schon her, dass Sigmund Freuds geliebte Tochter Sophie, sein „Sonntagkind“, an der Spanischen Grippe verstarb. Damals stürzte er sich in die Arbeit, um Ablenkung zu finden, doch der Verlust seines Lieblingskindes war schmerzhaft und erschütterte ihn tief. Er trauert immer noch um sie, aber das versucht er stets zu verbergen.
Seine heutigen Patienten, die Gebrüder Günther, könnten kaum unterschiedlicher sein, als Zwillinge eben sein können. Beide erlebten sie ein ähnliches Schicksal wie Freud, beide mussten durch die Spanische Grippe Verwandte und Freunde zu Grabe tragen. Und dennoch gehen beide ganz unterschiedlich damit um. Während der eine seinen Alltag meistert, scheint der andere an einer generalisierten Angststörung erkrankt zu sein.
Während sich Franz Günther bereits auf die Couch setzt, steht Hans Günther noch sehr verängstigt im Eingangsbereich der freudschen Praxis. Seit der Pandemie vor drei Jahren hat sich in ihm eine unbegründete und anhaltende Angst entwickelt. Er fürchtet sich nicht vor bestimmten Dingen oder Situationen. Nein, er ängstigst sich vor allem. Anfänglich befürchtete er, sich mit der Spanischen Grippe anzustecken, obwohl die Ansteckungsgefahr schon lange vorbei war. Mittlerweile beziehen sich die Sorgen und Befürchtungen jedoch auf zahlreiche andere Bereiche, wodurch es zu alltäglichen Einschränkungen und Belastungen kommt. In Hans Günthers Gedanken spielen sich die katastrophalsten Szenarien ab. Auch jetzt zeigt sich sein Absicherungs- und Vermeidungsverhalten. Hans Günther traut sich kaum, die Praxis von Herrn Freud zu betreten. Woran das nun liegt, kann er selbst nicht sagen, er weiß auch, dass seine unbegründete Angst das normale Maß überschreitet, kann diese Angst aber schon lange nicht mehr kontrollieren. In den letzten 6 Monaten intensivierte sich seine innere Anspannung. Es kommt immer wieder zu Atembeschwerden und Beklemmungsgefühlen, Herzklopfen und Schweißausbrüchen. Einfach so aus der Kalten heraus. Seine Muskeln verspannen sich immer mehr. Manchmal steigert sich das soweit, dass er Schwindelgefühle bekommt, sich schwach fühlt und sogar den Eindruck bekommt, nicht mehr wirklich hier zu sein. Hans hat seinem Zwillingsbruder Franz gegenüber geäußert, langsam den Verstand zu verlieren und verrückt zu werden. Deswegen sind die beiden heute auch bei Dr. Freud in der Sprechstunde
Angst hat eine wichtige Schutzfunktion und gehört zu den sieben Basisemotionen eines Menschen. Sie beschützt nicht nur das körperliche, sondern auch das seelische Wohlbefinden. Sie kann aber auch pathologisch werden. Freud stellt sich nun die Frage, weshalb der eine Zwilling erkrankt ist und der andere nicht. Scheinbar besitzt Franz Günther persönliche und soziale Ressourcen, auf die er in Krisen zurückgreifen kann, um seine psychische Gesundheit schneller wiederherzustellen.
Freud vermutet durch das übertriebene „Sich-Sorgen-machen“ bei Hans Günther einen dysfunktionalen Bewältigungsversuch aufgrund der lang andauernden Belastungen durch äußere Umstände und den damit verbundenen traumatischen Lebenserfahrungen. Auch zählen genetische und neurobiologische Veränderungen zu prädisponierenden Faktoren. Man geht davon aus, dass es eine Art genetische Disposition zur Ängstlichkeit gibt. Aber auch eine Vielzahl verschiedener verursachender Faktoren können eine generalisierte Angststörung auslösen, wenn sie in Wechselwirkung geraten (Vulnerabilitäts-Stress-Modell).
Welche negativen Verstärker führen nun bei Hans Günther zu dem fehladaptierten Verhalten? Wozu dient die Vermeidung und wovor schützt die aufkommende Angst? Die intrapsychische Abwehr verschiebt die Angst, um dann nicht mehr angesehen und zugeordnet zu werden, somit wird sie nicht mehr bewusst und äußert sich in völlig belanglosen Situationen. Der eine erträgt die Angst, der andere bildet eine pathologische Angstreaktion aus.
Behandlung einer generalisierten Angststörung
Für die Behandlung einer generalisierten Angststörung gibt es verschiedene Therapieansätze. Mittels Verhaltenstherapie lernt der Patient, sich mit seinen eigenen Ängsten auseinanderzusetzen, seine dysfunktionalen Gedanken und Ängste zu erkennen und diese zu verändern. Ziel ist hier die Entwicklung neuer Fertigkeiten und einem situationsangepassten Verhalten. Psychodynamisch nimmt man auch an, dass ein zentraler Beziehungskonflikt zugrunde liegen könnte. Wie bei anderen psychodynamischen Therapien wird daher Wert auf die Übertragungsbeziehung gelegt. Parallel zu der psychotherapeutischen Behandlung können auch Entspannungstechniken helfen: Autogenes Training, Progressive Muskelentspannung oder auch Yoga können helfen mit Stress besser umzugehen. Einige Menschen benötigen eine medikamentöse Begleittherapie, um die Beschwerden abzumildern.
Franz Günther fragt nach der Prognose und wie er seinen Bruder bei der Behandlung unterstützen kann. Erleichtert nehmen die Zwillinge wahr, dass die Behandlung der generalisierten Angststörung eine sehr günstige Prognose hat. 45 bis 75% der Betroffenen, die sich in Therapie begeben, gelten im Anschluss als geheilt. Neben der psychotherapeutischen Behandlung ist vor allem auch die Unterstützung seitens der Angehörigen enorm wichtig.
Freud vermittelt den beiden Herren nach der ersten Sitzung, dass die Scham der Betroffenen hinsichtlich der unerklärbaren Ängste und das Gefühl der Hilflosigkeit oft das größte Hindernis für einen Behandlungsbeginn ist. Mit klugen Ratschlägen sollten Außenstehende nicht bevormunden und sich zu sehr in das Leben der Betroffenen einmischen. Hilfreicher ist es, wenn Angehörige verständnisvoll und ermutigend einwirken.
Wenn wir die Gründe für das Verhalten der anderen verstehen könnten, würde plötzlich alles einen Sinn ergeben. (Sigmund Freud)
Quellen:
https://www.aerzteblatt.de/archiv/137451/Generalisierte-Angststoerung
https://www.gesundheitsinformation.de/generalisierte-angststoerung.html
https://www.netdoktor.de/krankheiten/generalisierte-angststoerung/
Diese Geschichte ist Teil der Beitragsreihe Sprechstunde bei Dr. Freud. Hier werden psychische Störungen in einem fiktionalen Kontext vorgestellt. Die Texte erheben keinen Anspruch auf historische Korrektheit.
Teil 1: Die traurige Traurigkeit | Teil 2: Die nimmersatte Esssucht | Teil 3: Der einsame Sammler | Teil 4: Die heimliche Krankheit | Teil 6: Die theatralische Hysterie | Teil 7: Die vergessliche Erinnerung | Teil 8: Der leise Abschied
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Dieser Beitrag wurde von Enikö Orbán, Geschäftsbereichsleiterin Fachbereich Psychotherapie der Deutschen Heilpraktikerschule Leipzig, verfasst.
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