Psychosoziale Entwicklung nach Erik Erikson

Psychosoziale Entwicklung nach Erik Erikson

Identität ist der Schnittpunkt zwischen dem, was eine Person sein will, und dem, was die Welt ihr zu sein gestattet

Die menschliche Entwicklung entfaltet sich im Spannungsfeld zwischen den Bedürfnissen und Wünschen des Kindes und den Anforderungen der sozi­alen Umwelt. Erik Erikson beschreibt in seinem Stufenmodell die psychosoziale Entwicklung eines jeden Menschen. Danach durchläuft der Mensch im Rahmen seiner Entwick­lung phasenspezifische Konflikte, welche durch die Konfrontation mit den gegensätzlichen Anforderungen und Bedürfnissen ausgelöst werden und deren Bewältigung Erikson als Entwicklungsaufgabe bezeichnet.

Jede der acht Stufen stellt einen Konflikt dar. Für die Entwicklung ist es notwendig, dass er hinreichend bearbeitet wird, um die nächste Stufe erfolgreich bewältigen zu können.

Die ersten vier Phasen gelten der Sozialisierung des Kindes, die letzten vier Phase der Sozialisierung des Erwachsenen.

Die Sozialisierung des Kindes

Stadium 1: Ur-Vertrauen vs. Ur-Misstrauen (1. Lebensjahr)

„Ich bin, was man mir gibt.“

Vertrauen beruht auf Bindung. Da ein Baby völlig abhängig ist, basiert die Entwicklung auf den psychosozialen Funktionsweisen Empfangen und Geben. Die Entwicklung des Vertrauens entsteht durch relevante Bezugspersonen, in der Stufe meistens die Mutter, mittels Fürsorge, Bedürfniserfüllung nach Sicherheit, Nähe und Geborgenheit. Werden dem Kind seine Bedürfnisse nach körperli­cher Nähe, Sicherheit und Geborgenheit verweigert, entwickelt es Bedro­hungsgefühle und Ängste (wie z. B. vor Feuer oder bestimmten Tieren). Wenn keine sichere Umgebung angeboten wird, entwickelt sich das Gefühl, seine Umwelt nicht beeinflussen zu können und ihr hilflos ausgeliefert zu sein. Dies führt zu Urmisstrauen. Die Elemente der Sozialordnung sind Ernährung und Pflege des Kindes. Wird der Konflikt auf dieser Stufe nicht gelöst zeigt sich eine starke orale Frustration wie Reizhunger, Gier, Leere-Gefühle, Depression, Ur-Misstrauen oder starken Abhängigkeitswünschen.

Stadium 2: Autonomie vs. Scham und Zweifel (2. bis 3. Lebensjahr)

„Ich bin, was ich will.“

Behalten oder Hergeben sind die in dieser Stufe relevanten Psychosozialen Funktionsweisen. Es geht um die zunehmende Autonomieentwicklung des Kindes und deren Bedeutung für das Selbstkonzept. Die Eltern schaffen die Voraussetzungen für die Auto­nomie des Kindes. Das Kind muss das Gefühl haben, seine Umwelt erforschen und seinen Willen durchsetzen zu können, ohne dass dadurch das Gefühl des Vertrauens und der Geborgenheit verloren geht. Wenn die Eltern dem Kind unzureichend vertrauen oder der Drang des Kindes unterdrückt wird, entstehen Scham und Zweifel. Die eigenen Bedürfnisse und Wünsche werden als schmutzig und nicht akzeptabel wahrgenommen. Wird der Gehorsam des Kindes durch strenge Erziehung eingeübt, kann es zu zwanghaften Charakterzügen kommen. Diese zeigen sich später durch Kleinlichkeit in Bezug auf Liebe, Zeit und Geld; übertriebene Rechtschaffenheit sowie Pedanterie bis hin zur Zwanghaftigkeit.

Stadium 3: Initiative vs. Schuldgefühl (4. bis 5. Lebensjahr)

„Ich bin, was ich mir vorstellen kann, zu werden.“

In der dritten Stufe geht es um eine gesunde Entwicklung der kindlichen Moral, was die Grund­lage für die Entwicklung des Gewissens legt. Kinder beginnen ihre Macht und Kontrolle über die Welt spielerisch zu behaupten. Sie spielen „tun als ob“-Spiele innerhalb der Bezugsfamilie.  Parallel findet die Loslösung zwischen Mutter und Kind statt. Die Bewältigung des Ödipuskomplexes ist eine wichtige Aufgabe innerhalb dieser Stufe. Die symbiotische Beziehung zwischen Mutter und Kind öffnet sich und im Leben des Kindes gewinnen auch andere Personen an Bedeutung. Wird dieser Konflikt nur unzureichend gelöst, so können Angst und Schuldgefühle entstehen, die dann zu einer Selbsteinschränkung führen, gemäß den eigenen Fähigkeiten, Gefühlen, Wünschen zu leben.

Stadium 4: Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl (6. Bis 13 Lebensjahr)

„Ich bin, was ich lerne.“

Kinder in diesem Alter wollen zuschauen, mitmachen, beobachten und teil­nehmen. Sie wollen etwas konstruieren (z. B. mit Knetmasse, Schlamm) und dafür Anerkennung erhalten. Neben dem Drang zum Spielen entwickelt das Kind einen Werksinn. Kinder wollen nicht mehr so tun „als ob“ , sondern wollen an der Welt der Erwachsenen teilnehmen. Sie entwickeln dabei Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten. Wird der Werksinn jedoch nicht angemessen ausgeführt, sei es aufgrund dessen, dass das Kind nicht so leistungsfähig ist, oder das Kind keine ausreichende Unterstützung dabei erhält, entwickelt sich das Gefühl zu scheitern und minderwertig zu sein. Die daraus entstehenden Versagensängste, die Angst vor bestimmten Aufgaben und keine Bewältigungsstrategien zu haben, mit Misserfolgen umzugehen, führen langfristig zu einem mangelnden Selbstbewusstsein.

Die Sozialisierung des Erwachsenen

Stadium 5: Ich-Identität vs. Ich-Identitätsdiffusion (13. bis 18 Lebensjahr)

„Ich bin, was ich bin.“

Mit der beschleunigten körperlichen Entwicklung stellt sich immer mehr die Frage: Wer bin ich? Welche Meinung habe ich? Welche Einstellungen und Ideologien vertrete ich? Identitätsbildung gelingt, wenn möglichst viele positive Erfahrungen gesammelt wurden, ein stabiles Selbstvertrauen besteht und ich vorangegangen Konflikte bewältigt habe. Dies fügt sich schließlich zu einer ICH-Identität. Als Bezugsgruppe dienen hier Gleichaltrige und Idole. Menschen mit einer Identitätsdiffusion, also keinem erfolgreichen Abschluss dieser Phase, ziehen sich von der Gesell­schaft zurück und schließen sich unter Umständen Gruppen an, die ihnen eine gemeinsame Identität anbieten. Wird dieser Konflikt erfolgreich ausba­lanciert, so mündet dies in die Fähigkeit der Treue. Fixierungen zeigen sich in unbefriedigender Identität durch Unruhe, ewige Pubertät und vorschnelle Begeisterung.

Stadium 6: Intimität und Solidarität vs. Isolation (19. bis 30 Lebensjahr)

„Wir sind, was wir lieben.“

Eine geklärte eigene Identität erlaubt eine tragfeste Partnerschaft und Intimität. Aufgabe dieser Phase ist es, ein gewisses Maß an Intimität zu erreichen, anstatt isoliert zu bleiben. Wurde keine ICH-Identität ausgebildet, kommt es zur Isolierung. Wird zu wenig Wert auf den Aufbau intimer Beziehungen gelegt (Partnerschaft und Freunde) und ist es nicht möglich, sich dem Partner gegenüber zu öffnen, können sich Selbst-Bezogenheit, soziale Isolation und Selbstaufopferung fixieren. Wird diese Stufe erfolgreich gemeistert, ist der junge Erwachsene fähig zur Aufrechter­haltung einer Partnerschaft.

Stadium 7: Generativität vs. Stagnation und Selbstabsorption (30. bis 65 Lebensjahr)

„Ich bin, was ich bereit bin zu geben.“

Erziehung und Tradition sind Elemente der Sozialordnung in diese Phase, eine Balance des Sich-Kümmerns um sich und andere. Das bedeutet, sich um Nachkommen zu kümmern und eigene Kinder großzuziehen. Dazu zählt nicht nur das Zeugen von Kindern und die Fürsorge für sie, sondern auch das Unterrichten, die Künste, die Wissenschaften sowie soziales Engagement. Ich bin, was ich hinterlasse. Sei es in Form eigener Kinder oder einer hervorragenden Leistung. Was ist mein „Erbe“? Was ist für zukünftige Generationen „brauchbar“? Stagnation ist das Gegenteil in dieser Phase. Statt Schaffen und Versorgen, kümmere ich mich um mich selbst und um niemanden sonst. Stagnation führt dazu, dass andere uns ablehnen und wir andere. Niemand ist so wichtig wie wir selbst. Wird die Phase erfolgreich abgeschlossen, hat man die Fähigkeit zur Fürsorge erlangt, ohne sich selbst dabei aus den Augen zu verlieren. Fixierungen können sich zeigen: in einer übermäßigen Bemutterung, in Leere und Langweile oder in zwischenmenschlicher Verarmung.

Stadium 8: Ich-Integrität vs. Verzweiflung (ab 65. Lebensjahr)

„Ich bin, was ich mir angeeignet habe.“

Der letzte Lebensabschnitt ist mit vielen Umbrüchen verbunden und stellt den Menschen vor die Aufgabe, auf sein Leben zurückzublicken. Manche scheiden aus dem Berufsleben aus, die Kinder sind aus dem Haus, es sterben Weggefährten und der Körper macht nicht mehr alles mit. Wer wohlwollend auf sein Leben zurückblickt, sich vollkommen und zufrieden fühlt, hat die ICH-Integrität erreicht und kann den Tod als sein Ende akzeptieren. Erikson nennt das Weisheit. Überwiegt aber übermäßige Angst vor dem Tod, hadert man mit den Entscheidungen des Lebens und bereut Vergangenes, so führt dies zur Verzweiflung. Setzt sich der Mensch in dieser Phase nicht mit Alter und Tod auseinander, kann das zur Verachtung dem Leben gegenüber führen. Wird diese Phase jedoch erfolgreich gemeistert, sieht man dem Tod mit Fassung entgegen und nimmt sein Leben mit allen Facetten an.

Quellen:

Hier finden Sie alle Informationen zu unseren Ausbildungen zum Heilpraktiker für Psychotherapie:

Dieser Beitrag wurde von Enikö Orbán, Geschäftsbereichsleiterin Fachbereich Psychotherapie der Deutschen Heilpraktikerschule Leipzig, verfasst.

 

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