„Mein Gemüse ess´ ich nicht“ oder: Wie Kinder entspannt essen lernen

„Mein Gemüse ess´ ich nicht“ oder: Wie Kinder entspannt essen lernen

Wenn Kinder essen lernen, dann ist dies auch für Eltern eine wichtige, prägende Zeit und die meisten Personen denken wohl zunächst vor allem an Fragen wie: „Wann ist mein Baby bereit, mit der Beikost zu beginnen?“, „Wird mein Kind satt und bekommt es alle Nährstoffe, die es für die Entwicklung benötigt?“ oder „Wird mein Kind wohl alle angebotenen Produkte gern mögen und auch gut vertragen?“.

All diese Fragen sind nachvollziehbar und wichtig, doch was dabei oftmals in den Hintergrund gerät, ist die Tatsache, dass es beim Thema „Essen lernen“ um viel mehr geht als um Sättigung oder Nährstoffversorgung.

Denken Sie doch nur einmal an eine entspannte Mahlzeit in netter, geselliger Runde. Sie haben Spaß und genießen das leckere Essen – ein Gericht, welches Sie vorher schon öfter gegessen haben und gern mögen. Im Verlauf der Mahlzeit spüren Sie schließlich ein stärker werdendes Sättigungsgefühl, doch das Essen ist ja so lecker – da kann man ja keine Reste zurückgehen lassen und außerdem, die anderen essen auch noch weiter und… man isst doch den Teller immer leer. Vielleicht gibt es ja im Anschluss auch noch eines der wohlschmeckend klingenden Desserts, denn so etwas rundet doch ein gutes Essen ab und Sie verbinden den Geschmack vielleicht mit Ihrer Kindheit, anderen genussvollen Momenten und ja, heute war ein anstrengender Tag, da kann man sich ja auch einmal etwas gönnen. Oder?

Was hat jetzt dieser kleine, gedankliche Ausflug mit dem Thema zu tun? Nun, ein Kind, welches gerade erst damit beginnt, etwas anderes als Milch zu sich zu nehmen, kennt unsere Lebensmittel ausschließlich über sanfte Eindrücke aus dem Mutterleib und – falls es gestillt wurde – aus der Milch. Variierende Sinneserfahrungen, wie das Fühlen verschiedener Konsistenzen, die Wahrnehmung von Geruch und Geschmack, Farbe und Form der Lebensmittel sowie das Hören der Geräusche beim Verzehr sind noch vollkommen unbekannt und wollen erst noch entdeckt werden. Auch Gewohnheiten, wie z.B. das Essen aus Langeweile, bei Stress oder zur Belohnung sind dem Kind noch fremd und es gibt zudem keine wertende Einteilung der Lebensmittel in „gut und böse“, wie es bei vielen Personen durchaus der Fall ist.

Das Kind begibt sich beim Essen lernen also auf eine Reise in eine fast vollkommen neue Welt und Sie dürfen es dabei achtsam, empathisch und aufmerksam begleiten und unterstützen. Doch welche Faktoren außer Kalorien und Nährstoffen, Hunger, und Sättigung spielen eine Rolle für den Verlauf der großen, spannenden Reise „Essen lernen“?

Prägung

Die so genannte Prägung entsteht nicht nur durch die Kultur, in die wir hineingeboren werden und unser soziales Umfeld, sondern schon viel früher. Wir lernen verschiedene Geschmacksvariationen tatsächlich bereits im Mutterleib kennen und sogar evolutionär bedingt haben wir alle bereits eine Vorliebe für die Geschmacksrichtungen süß und (leicht) salzig. Dies ist darin begründet, dass süß schmeckende Lebensmittel in der Regel sicher sind und zudem meist schnell verfügbare Energie liefern, während leicht Salziges wichtige Mineralstoffe liefern kann. Produkte, die für uns gefährlich werden könnten, schmecken meist sauer oder bitter, weshalb diese Geschmacksrichtungen von kleinen Kindern auch eher abgelehnt werden.

Evolutionsbiologische Programme

Zwei solcher Programme spielen beim Essen lernen eine entscheidende Rolle und das nicht nur in der Kindheit. Der „mere exposure effect“ und die „spezifisch sensorische Sättigung“.

Denken Sie noch einmal an eine solche gesellige Runde, zu der Sie sich am Anfang des Textes getroffen haben. Nun findet dieses Treffen im fernen Ausland statt und Sie haben ein bekanntes Gericht bestellt, aber vom Restaurant eine Vorspeise aus Produkten bekommen, welche Sie zuvor so noch nie gesehen, gerochen oder gar probiert haben. Wie gehen Sie vor? Vermutlich werden Sie die Speise auf dem Teller erst einmal in Ruhe betrachten, daran riechen und dann einen kleinen Bissen wagen. Vielleicht finden Sie vorher auch noch jemanden, der bereits etwas davon verzehrt hat, der von seinen Sinneseindrücken berichten kann und dem es augenscheinlich gutgeht. Sie nehmen nach und nach Folgendes wahr: „Das Gericht auf dem Teller sieht sehr gut aus, riecht für mich ansprechend und schmeckt mir auch gut. Zudem scheine ich es, genau wie die anderen hier, gut zu vertragen.“ Daraufhin werden Sie mutiger und füllen Gabel oder Löffel stärker. Hat Ihnen das Gericht gut geschmeckt und Sie haben nachher keine Beschwerden, so werden Sie es bei Gelegenheit vielleicht wieder essen und mit der Zeit wird der Verzehr zur liebgewonnenen Gewohnheit. Das ist der „mere exposure effect“, der auch als „liking by tasting“ oder „gewohnheitsbedingte Geschmacksprägung“ bezeichnet wird. Wir lernen also, ein noch fremdes Produkt zu mögen, indem wir es öfter angeboten bekommen und immer wieder probieren. Kinder sind in dieser Hinsicht ebenso zunächst einmal vorsichtig, was das Ausprobieren von noch unbekannten Lebensmitteln angeht und bevorzugen Speisen, die sie bereits kennen und deren Verzehr bislang ohne negative Konsequenzen blieb.

Dem steht die „spezifisch sensorische Sättigung“ entgegen. Dieses Programm dient uns dazu, eine einseitige Ernährung zu vermeiden und uns so vor Nährstoffmängeln zu schützen. Das geschieht, indem wir Produkte, welche wir zu häufig verzehrt haben, zumindest kurzfristig sprichwörtlich „nicht mehr sehen können“ oder „sie uns zum Hals heraus hängen“.

Innenreize / Außenreize

Schaffen wir es, von äußeren Reizen oder Gewohnheiten unbeeinflusst auf unsere körperlichen Signale zu hören, dann essen wir bei körperlichem Hunger und das genau so lange, bis wir ein angenehmes Sättigungsgefühl wahrnehmen. Zudem zeigt unser Körper an, welche Form von Energie und welche Nährstoffe gerade gebraucht werden, indem wir Appetit auf bestimmte Speisen entwickeln. Eigentlich. Doch im Laufe unseres Heranwachsens kommen stets mehr Faktoren hinzu, die Einfluss auf unsere Nahrungsmittelauswahl haben. Dies sind z.B. Werbung, Medien, „Sonderangebote“ oder auch die „Special Edition“ – denn etwas, was offenbar nur begrenzt verfügbar ist, wird eher gekauft, die Mahlzeitengestaltung und Produktauswahl von Familie und Freunden, Emotionen, Glaubenssätze und noch vieles mehr werden beeinflusst.

Vertrauen Sie auf den Instinkt Ihrer Kinder

Kinder, die gerade erst mit dem Essen beginnen, haben diesen oben beschriebenen Instinkt noch. Sie kennen noch keine Außenreize und schaffen es hervorragend, auf ihre inneren Signale zu hören, wenn man sie lässt. Die Aufgabe der Eltern ist es, diese Signale kennenzulernen, anzunehmen und zu achten. Das bedeutet z.B. auch, dass Eltern lernen dürfen zu akzeptieren…

… dass ein Gericht, das immer gemocht wurde, plötzlich abgelehnt wird,

… dass an einem Tag große Portionen gegessen werden und an einem anderen nur sehr kleine,

… dass Neues nicht unbedingt sofort neugierig probiert, sondern erstmal skeptisch betrachtet wird,

… dass Kinder nicht unbedingt Hunger haben, nur weil es „jetzt an der Zeit ist“.

„Mein Kind will nicht essen“ meint oftmals: „Mein Kind isst nicht das, was ich ihm gerade geben möchte und nicht so viel, wie ich es erwarte“.

Nachdem Sie in diesem Artikel nun einen ersten, kleinen Einblick in das große Thema „Essen lernen“ bekommen haben, folgen nun noch einige Tipps für einen entspannten Ess-Alltag:

  • Beobachten Sie Ihr eigenes Verhalten bei Zubereitung und Verzehr der Mahlzeit, denn Kinder ahmen Ihr Verhalten nach. Genießen Sie Ihr Essen und nehmen Sie sich – frei von Ablenkung durch Smartphone, Laptop, Zeitung, o.ä. – ausreichend Zeit dafür? Essen Sie selbst mit Freude, abwechslungsreich und bunt?
  • Hinterfragen Sie Ihre eigenen Gewohnheiten! Setzen Sie selbst Nahrung zur „Bearbeitung“ von Stress, Frust, Einsamkeit, Langeweile ein oder gönnen Sie sich gern etwas Leckeres zur Belohnung bzw. zum Trost?
  • Geben Sie zu Beginn der Mahlzeit nicht zu viel auf den Teller, denn zu große Portionen können überfordernd wirken. Vermitteln Sie, dass gern noch etwas nachgenommen werden darf und auch, dass es okay ist, wenn Reste übrig bleiben. Niemand muss über das Sättigungsgefühl hinaus den Teller leer essen.
  • Ihr Kind lehnt z.B. Gemüse ab? Bieten Sie es immer wieder hübsch angerichtet an und variieren Sie die Darreichungsform: Scheiben, Stücke, Püree, „Pommes“ oder ausgestochene Muster. Pur oder mit anderen Sorten gemischt, mit oder ohne Dip, als Puffer, Muffin oder Waffel. Seien Sie kreativ und denken Sie immer daran: das Auge isst mit!
  • Vermeiden Sie unbedingt Aussagen wie „Wenn du dein Gemüse aufgegessen hast, dann bekommst du auch einen Nachtisch.“ Hier lernt Ihr Kind lediglich, dass ein Nachtisch etwas ist, was man sich erarbeiten muss (Stichwort Belohnung) und dass das Gemüse etwas ist, dessen Verzehr belohnt werden sollte.
  • Zwingen Sie Ihr Kind niemals, etwas zu probieren, was es im Moment nicht möchte, vermeiden Sie Spielchen zur Ablenkung wie „Ein Löffel für Mama…“ oder gar den Einsatz von Medien, um das Kind nebenbei unbemerkt zu füttern.
  • Das Kind möchte nicht (mehr) gefüttert werden? Dann darf es die Mahlzeit selbst mit den Händen essen oder sich am Essen mit Besteck versuchen. Auf diese Weise fördern Sie ganz nebenbei auch die Hand-Augen-Koordination sowie Motorik und Selbstständigkeit.
  • Vermeiden Sie Aussagen, die nur eventuell in ferner Zukunft zutreffen werden und die für das Kind keinerlei greifbare Bedeutung haben, wie z.B. „Iss dein Brokkoli auf, das ist doch so gesund“ oder „Iss nicht so viel Süßes, das macht dick und du bekommst Karies.“
  • Beziehen Sie das Kind sobald wie möglich in Auswahl und Zubereitung mit ein und erschaffen Sie eine positive Beziehung zum Essen.
  • Bauen Sie gemeinsame Routinen und Rituale auf.
  • Lassen SIE Gesundes zur Selbstverständlichkeit werden, um gesunde Gewohnheiten zu prägen – zeigen Sie, wie lecker gesunde Mahlzeiten sind.

Begleiten Sie ein Kind auf der Entdeckungsreise in die Welt des Essens und der Lebensmittel? Dann nutzen Sie diese Chance doch, um Ihr eigenes Essverhalten, Ihre Rituale, Einstellungen und Gewohnheiten zu hinterfragen und möglicherweise umzustrukturieren.

 

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Dieser Beitrag wurde von Catrin Bendfeldt, Tutorin der Ausbildung zum Ernährungsberater im Fernlehrgang, verfasst.

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