Zwangsstörung (Die heimliche Krankheit). A Kutyafáját! Ein halb verzweifelter, halb wütender Ausdruck kommt Graf Istvan Ferenc Széchenyi über die Lippen. Seit mehr als 20 Minuten versucht er zwanghaft (s)eine Struktur in das Bücherregal von Sigmund Freud zu bringen. Sortiert die Bücher nach Auflagen, dann mal wieder nach Größe, um sie dann doch nach ihren Anfangsbuchstaben aufzustellen. Jede andere Art der Ordnung macht ihn unglaublich nervös. In letzter Zeit beschäftigt er sich nahezu ununterbrochen mit dem Sortieren und Abzählen von Dingen und versucht dabei, die sich ihm wiederkehrenden unerwünschten Gedanken loszuwerden, denn sie lösen äußerst unangenehme Gefühle in ihm aus. Manchmal auch Befürchtungen, dass ein Unheil über ihn und seine Familie einbrechen würde, wenn er die Handlungen nicht ausführt. Ihm ist vollkommen klar, dass diese Gedanken und Handlungen vollkommen sinnlos sind. Sie quälen ihn sogar und dennoch schafft er es kaum, diese willentlich zu unterdrücken. Mittlerweile nimmt dies solch ein Ausmaß an, dass er seine alltäglichen Dinge kaum noch verrichtet bekommt. Oft genug bedarf es mehrmaliger zeitraubender Kontrollen und Rückversicherungen, bis sich eine Beruhigung bei ihm einstellt. Leider führt das nur zu einer kurzfristigen Reduzierung des Spannungsgefühls. Sein Kammerdiener Franz darf seinem Dienstherrn kaum noch von der Seite weichen. Er inspiziert die Räume vorab, reinigt diese, kontrolliert alles mehrmals und versichert dem Grafen immer wieder, dass alles in Ordnung sei. Das geht nun schon seit einigen Monaten so.
Franz war es auch, der dem Grafen riet, sich professionelle Unterstützung zu holen. Durch den gemeinsamen Freund Sandor Ferenci, bekam Graf Széchenyi auch zeitnah einen Termin bei Sigmund Freud.
Freud sitzt gelassen in seinem Sessel und beobachtet das Treiben des Grafen in seiner Praxis. Als dieser sich dann endlich auf den eigentlichen Grund seines Besuches konzentrieren kann, bietet Freud ihm einen Platz auf der Couch an. Bevor dieser sich jedoch hinsetzt, säubert Kammerdiener Franz noch einmal schnell die Couch. Da es für den Grafen sowieso schon ein unangenehmes und schambehaftetes Thema ist, hält er sich anschließend etwas mehr im Hintergrund auf.
Wohlwissend, wie sich der Graf mit dieser Symptomatik fühlt, geht Sigmund einfühlsam und verständnisvoll vor. Als er nach einem zeitlichen Zusammenhang mit dem ersten Auftreten der Zwangssymptome fragt, kommt schnell heraus, dass diese mit der Auflösung der Österreich-Ungarischen Monarchie begann. Diese stellte für den Grafen eine enorme Verunsicherung und Überforderung dar. Mit der Zwangssymptomatik versucht er, stellvertretend die Kontrolle über diese, für ihn scheinbar nicht zu bewältigende Situation, wiederherzustellen.
Hinzu kommt, dass die Geburt seines ersten Kindes bevorsteht und er sich enorme Sorgen um dessen Wohlergehen macht. Schließlich grassiert schon seit dem letzten Jahr die spanische Grippe. Anfänglich verspürte er einen starken Druck, sein Kind vor all den politischen Wirrungen und gesundheitlichen Gefahren beschützen zu wollen. Aber mittlerweile bestimmen diese Gedanken seinen Alltag und er leidet zunehmend darunter.
Das war schon in seiner Kindheit so. Als einziger Erbe wuchs er in einem sehr behüteten und stark geordneten Haushalt auf, wobei er ähnliche Zwangssymptome auch bei anderen Familienmitgliedern beobachtet hat. Ihm wurde das Spielen mit Gleichaltrigen Kindern untersagt, denn die Gefahr einer schlimmen Verletzung oder gar Schlimmeres musste auf ein Minimum reduziert werden, da das Fortbestehen des Adelsgeschlecht von ihm abhängig sei. Dies führte schon früh zu einem unsicheren Verhalten und dazu, dass er alles um sich herum kontrollierte, strukturierte und sich Gedanken machte.
Sigmund Freud diagnostiziert die Zwangsneurose bei dem Grafen. Diese äußert sich darin, dass der Kranke gegen seinen Willen grübeln muss, als ob es sich um seine wichtigste Lebensaufgabe handele. Die Ausführung der Handlungen bereite dem Patienten aber kein Vergnügen, aber eine Unterlassung ist ihm auch nicht möglich. Eine Erschöpfung stellt sich zudem durch die angestrengte Denktätigkeit ein. Die Zwangshandlungen haben laut Freud einen doch recht harmlosen Charakter, obwohl sie die Verrichtungen des Alltags stark beeinträchtigen. Mit Hilfe der Zwänge kann sich der Graf aus den sozialen Situationen zurückziehen und reduziert seine eigene Selbstunsicherheit sowie die Angst vor einer eventuellen Ablehnung. Durch den Ordnungszwang kompensiert er seine sozialen Defizite indem er versucht die sozialen Normen überzuerfüllen. Auch kontrolliert er damit seine gefühlsmäßige Unsicherheit und lenkt ihn von negativen Befindlichkeiten ab. Aufkommende Ängste neutralisiert er durch die übertrieben Reinlichkeit. Im Grunde verschiebt, vertauscht oder ersetzt der Graf seinen Zwang, aber er kann ihn nicht aufheben.
Die Behandlung einer Zwangsstörung
Auch wenn das alles im ersten Moment danach klingt, diese Erkrankung nur schwer behandeln zu können, so schlägt ihm Freud eine Kombination aus verschiedenen Therapiemethoden vor. Die Zwangsstörung wird vor allem mit einer Kognitiven Verhaltenstherapie behandelt. Dabei geht es darum, seine eigenen Denkmuster zu erkennen und zu hinterfragen. Was nützt mir eigentlich dieses Verhalten? Auch werden die aufkommenden Ängste und Spannungen gezielt trainiert, in dem man mit der Ursache desselbigen konfrontiert wird. Der Lerneffekt besteht darin, zu erkennen, dass Angst und Anspannung sich nicht ins Unermessliche steigert, sondern nach einer gewissen Zeit abklingt.
Allerdings bedarf es auch hier einer intensiven psychodynamischen Aufarbeitung. Gehemmte Impulse müssen bewusst gemacht und etwaige Konfliktspannungen als unbewusste Inszenierung auf Grundlage daraus abgeleiteter Konflikte aufgearbeitet werden.
Die Grundsatzfrage, die Freud dem Grafen stellt, ist, ob er dazu bereit ist, sich seinen Ängsten zu stellen.
Diese Geschichte ist Teil der Beitragsreihe Sprechstunde bei Dr. Freud. Hier werden psychische Störungen in einem fiktionalen Kontext vorgestellt. Die Texte erheben keinen Anspruch auf historische Korrektheit.
Teil 1: Die traurige Traurigkeit | Teil 2: Die nimmersatte Esssucht | Teil 3: Der einsame Sammler | Teil 5: Die gesunde Angst | Teil 6: Die theatralische Hysterie | Teil 7: Die vergessliche Erinnerung | Teil 8: Der leise Abschied
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Dieser Beitrag wurde von Enikö Orbán, Geschäftsbereichsleiterin Fachbereich Psychotherapie der Deutschen Heilpraktikerschule Leipzig, verfasst.
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