Es ist einer dieser verregneten, grauen Tage im November, an denen man lieber im Bett liegen bleiben möchte. Irgendwie will sich auch bei Sigmund Freud heute die Stimmung nicht sonderlich aufhellen. Er wartet nun schon seit einigen Minuten auf seinen 11:00-Uhr-Termin, doch dieser lässt bis jetzt auf sich warten. Normalerweise toleriert er keine Unregelmäßigkeiten in seinem Tagesablauf. Aber bei dieser jungen Dame, die immer wieder von Traurigkeit geplagt ist, macht er eine Ausnahme, denn irgendwie erinnert sie ihn an seine Tochter Anna.
Ein zartes Klopfen an seiner Praxistür reißt ihn aus seinen Gedanken. Völlig durchnässt und halb erfroren betritt Fräulein Isabella Wald die Praxis. Mit leiser, brüchiger Stimme entschuldigt sie sich mehrfach bei ihm. Sie verdiene die Fürsorge ihres Therapeuten nicht und versteht nicht, dass er sich so um sie sorgt. Nur langsam nimmt sie auf der Couch Platz. Sigmund betrachtet dieses zarte, zusammengekümmerte Wesen aus seinem Sessel heraus. Ihr Erscheinen, wenn auch unpünktlich, möchte er würdigen, denn der Aufbau einer authentischen und tragfähigen Beziehung zu dieser Patientin ist besonders wichtig. Er weiß, dass es für Fräulein Wald kein Leichtes war, sich aufzuraffen und bei ihm in der Praxis zu erscheinen.
Auf Sigmund wirkt seine Patientin heute ziemlich gedrückt und schwermütig, was nicht ausschließlich an dem grauen Nieselwetter in Wien liegt. Ein Gespräch mit ihr zu führen erweist sich gerade als sehr schleppend. Immer wieder versinkt die junge Frau ins Grübeln und kann dem Gespräch nur schwer folgen. Auch spricht sie zunehmend leiser und gehemmter und Freud muss sich anstrengen, genau zuzuhören. Sie berichtet davon, dass sie vor drei Tagen erst zum Bäcker ging, um Brot zu kaufen. Es kostete sie viel Mühe, überhaupt dorthin zu kommen. Und als sie dann an der Reihe war, fühlte sie sich völlig überfordert und konnte sich nicht für ein bestimmtes Brot entscheiden. Die Kundinnen hinter ihr wurden dann auch langsam ungeduldig und verstanden nicht, was denn so schwer daran sei, ein Brot zu kaufen. Schließlich lief sie weinend aus der Bäckerei, ohne Brot, und als sie zu Hause ankam, fiel sie völlig erschöpft und müde ins Bett. Ihr Partner sei dann nochmal losgegangen und habe das benötigte Brot besorgt. Daraufhin habe sie noch größere Schuldgefühle ihm gegenüber bekommen, denn er übernimmt mehr und mehr die Aufgaben im Haushalt, da sie diese kaum noch verrichten kann. Sie meint ebenfalls, für ihren Partner ohnehin nur noch eine Belastung zu sein und er ohne sie besser dran wäre. Seit einiger Zeit fühlt sie eine innere Leere und ein Gefühl der Gefühllosigkeit. Nichts macht ihr mehr Spaß, einen erholsamen Schlaf hatte sie auch schon lange nicht mehr. Oft wird sie früh wach, liegt im Bett und grübelt. All das schlägt ihr mittlerweile auch so sehr auf den Magen, dass sie nun noch dünner geworden ist. Sie hat einfach keinen Appetit und nichts schmeckt ihr mehr. Der Hausarzt findet aber keine organische Ursache für die Gewichtsabnahme und sorgt sich nun zunehmend um sie.
Freud hört ihr aufmerksam zu. Er bittet seine Patientin, sich ganz entspannt auf die Couch zu legen und der nun folgenden Geschichte [1] zuzuhören:
Das Märchen von der traurigen Traurigkeit
Es war eine kleine alte Frau, die bei der zusammengekauerten Gestalt am Straßenrand stehenblieb. Das heißt, die Gestalt war eher körperlos, erinnerte an eine graue Flanelldecke mit menschlichen Konturen.
„Wer bist du?“, fragte die kleine Frau neugierig und bückte sich ein wenig hinunter.
Zwei lichtlose Augen blickten müde auf. „Ich… ich bin die Traurigkeit“, flüsterte eine Stimme so leise, dass die kleine Frau Mühe hatte, sie zu verstehen.
„Ach, die Traurigkeit“, rief sie erfreut aus, fast als würde sie eine alte Bekannte begrüßen.
„Kennst du mich denn?“, fragte die Traurigkeit misstrauisch.
„Natürlich kenne ich dich“, antwortete die alte Frau, „immer wieder einmal hast du mich ein Stück des Weges begleitet.“
„Ja, aber …“ argwöhnte die Traurigkeit, „warum flüchtest du nicht vor mir, hast du denn keine Angst?“
„Oh, warum sollte ich vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du weißt doch selber nur zu gut, dass du jeden Flüchtigen einholst und dich so nicht vertreiben lässt. Aber, was ich dich fragen will, du siehst – verzeih diese absurde Feststellung – du siehst so traurig aus?“
„Ich…ich bin traurig“, antwortete die graue Gestalt mit brüchiger Stimme.
Die kleine alte Frau setzte sich jetzt auch an den Straßenrand. „So, traurig bist du“, wiederholte sie und nickte verständnisvoll mit dem Kopf. „Magst du mir erzählen, warum du so bekümmert bist?“
Die Traurigkeit seufzte tief auf. Sollte ihr diesmal wirklich jemand zuhören wollen? Wie oft hatte sie vergebens versucht, doch…
„Ach, weißt du“, begann sie zögernd und tief verwundert, „es ist so, dass mich offensicht-lich niemand mag. Es ist meine Bestimmung, unter die Menschen zu gehen und eine Zeitlang bei ihnen zu verweilen. Bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Aber fast alle reagieren so, als wäre ich die Pest. Sie haben so viele Mechanismen für sich entwickelt, meine Anwesenheit zu leugnen.“
„Da hast du sicher recht“, warf die alte Frau ein. „Aber erzähle mir ein wenig davon.“
Die Traurigkeit fuhr fort: „Sie haben Sätze erfunden, an deren Schutzschild ich abprallen soll. Sie sagen „Papperlapapp – das Leben ist heiter“, und ihr falsches Lachen macht ihnen Magengeschwüre und Atemnot.
Sie sagen „Gelobt sei, was hart macht“, und dann haben sie Herzschmerzen.
Sie sagen „Man muss sich nur zusammenreißen“ und spüren das Reißen in den Schultern und im Rücken.
Sie sagen „Weinen ist nur für Schwächlinge“, und die aufgestauten Tränen sprengen fast ihre Köpfe.
Oder aber sie betäuben sich mit Alkohol und Drogen, damit sie mich nicht spüren müssen.“
„Oh ja“, bestätigte die alte Frau, „solche Menschen sind mir oft in meinem Leben begegnet. Aber eigentlich willst du ihnen ja mit deiner Anwesenheit helfen, nicht wahr?“
Die Traurigkeit kroch noch ein wenig mehr in sich zusammen. „Ja, das will ich“, sagte sie schlicht, „aber helfen kann ich nur, wenn die Menschen mich zulassen. Weißt du, indem ich versuche, ihnen ein Stück Raum zu schaffen zwischen sich und der Welt, eine Spanne Zeit, um sich selbst zu begegnen, will ich ihnen ein Nest bauen, in das sie sich fallen lassen können, um ihre Wunden zu pflegen. Wer traurig ist, ist ganz dünnhäutig und damit nahe bei sich. Diese Begegnung kann sehr schmerzvoll sein, weil manches Leid durch die Erinnerung wieder aufbricht wie eine schlecht verheilte Wunde. Aber nur, wer den Schmerz zulässt, wer erlebtes Leid betrauern kann, wer das Kind in sich aufspürt und all die verschluckten Tränen weinen lässt, wer sich Mitleid für die inneren Verletzungen zugesteht, der, verstehst du, nur der hat die Chance, dass seine Wunden wirklich heilen.
Stattdessen schminken sie sich ein grelles Lachen über die groben Narben. Oder verhärten sich mit einem Panzer aus Bitterkeit.“
Jetzt schwieg die Traurigkeit, und ihr Weinen war verzweifelt.
Die kleine alte Frau nahm die zusammengekauerte Gestalt tröstend in den Arm. „Wie weich und sanft sie sich anfühlt“, dachte sie und streichelte zärtlich das zitternde Bündel. „Weine nur, Traurigkeit“, flüsterte sie liebevoll, „ruhe dich aus, damit du wieder Kraft sammeln kannst. Ich weiß, dass dich viele Menschen ablehnen und verleugnen. Aber ich weiß auch, dass schon einige bereit sind für dich. Und glaube mir, es werden immer mehr, die begreifen, dass du ihnen Befreiung ermöglichst aus ihren inneren Gefängnissen. Von nun an werde ich dich begleiten, damit die Mutlosigkeit keine Macht gewinnt.“
Die Traurigkeit hatte aufgehört zu weinen. Sie richtete sich auf und betrachtete verwundert ihre Gefährtin.
„Aber jetzt sage mir, wer bist du eigentlich?“
„Ich“, antwortete die kleine alte Frau und lächelte still, „ich bin die Hoffnung!“
Für einen kurzen Moment herrscht absolute Stille. Jeder lässt die Geschichte auf sich wirken. Sigmund hofft, dass Fräulein Isabella Wald einen ersten Zugang zu ihrer Traurigkeit aufbauen konnte. Er möchte ihr Mut und Hoffnung vermitteln, denn die Symptome, welche sie ihm beschrieb, gehören zu einer häufigen, bekannten und gut behandelbaren Erkrankung.
Der Depression.
Langsam richtet sich seine Patientin wieder auf und eine einzelne Träne läuft ihr über die Wange. Sichtlich gerührt und bewegt verabschieden sich beide voneinander. Als die junge Frau auf die Wiener Berggasse heraustritt, bricht sich ein zarter Sonnenstrahl durch die dicke, verhangene Wolkendecke und streichelt ihr sanft das Gesicht.
[1] © Inge Wuthe, Gestalttherapeutin, www.inge-wuthe.de/traurigetraurigkeit.htm
Diese Geschichte ist Teil der Beitragsreihe Sprechstunde bei Dr. Freud. Hier werden psychische Störungen in einem fiktionalen Kontext vorgestellt. Die Texte erheben keinen Anspruch auf historische Korrektheit.
Teil 2: Die nimmersatte Esssucht | Teil 3: Der einsame Sammler | Teil 4: Die heimliche Krankheit | Teil 5: Die gesunde Angst | Teil 6: Die theatralische Hysterie | Teil 7: Die vergessliche Erinnerung | Teil 8: Der leise Abschied
Kommentar verfassen