Alles Trauma oder was? ‒ Zwischen Modebegriff und wissenschaftlicher Realität: Wir leben in einer Zeit, in der psychische Gesundheit zunehmend enttabuisiert wird – das ist begrüßenswert. Doch die Kehrseite dieser Entwicklung ist eine gewisse Popularisierung psychologischer Fachbegriffe ohne Kenntnis ihrer eigentlichen Bedeutung.
So ist auch der Begriff Trauma längst ein Medien- und Marketingphänomen geworden:
- in Lifestyle-Magazinen wird über „Beziehungstraumata“ geschrieben,
- Coaches werben mit „Traumaheilung“ für jedermann,
- Influencer teilen ihre „traumatischen Erfahrungen“ in Instagram-Stories – oft ohne professionelle Einordnung.
Das Problem: Wenn alles Trauma ist, ist am Ende nichts mehr Trauma. Die Gefahr besteht darin, dass Traumafolgestörungen bagatellisiert werden, während gleichzeitig viele Menschen sich mit Diagnosen identifizieren, die nie gestellt wurden.
Was ist ein Trauma – wirklich?
Während der Begriff im Alltagsgebrauch oft unscharf bleibt, ist er in der Psychologie und Psychiatrie sehr genau definiert. Fachleute sprechen nicht von „Trauma“, wenn jemand eine schwierige Phase durchlebt hat. Vielmehr geht es um Ereignisse, die tief in die psychische Struktur eingreifen, häufig mit langfristigen Folgen.
Zwei international anerkannte Diagnosemanuale geben hier Orientierung:
- DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders): Ein Trauma liegt vor, wenn eine Person reale oder drohende Todesgefahr, ernsthafte Verletzung oder sexualisierte Gewalt erlebt, miterlebt hat oder davon erfährt. Entscheidend ist die objektive Schwere des Ereignisses.
- ICD-11 (International Classification of Diseases, WHO): Auch hier steht die Konfrontation mit extrem belastenden Ereignissen im Mittelpunkt. Situationen, aus denen eine Flucht oder ein Entkommen schwierig oder unmöglich war und die weit über das alltägliche Stresslevel hinausgehen.
Wir sehen also: Nicht jede Belastung oder Krise wird in der Fachwelt als Trauma eingestuft. Eine Trennung, ein Misserfolg im Studium oder ein heftiger Streit mit Kollegen können zwar emotional überfordernd sein, gelten aber in der Regel nicht als traumatisch im klinischen Sinne. Selbstverständlich können auch Krisen, die klinisch nicht als traumatisch eingestuft werden, tiefgreifende und schmerzhafte Folgen für den Betroffenen haben! In diesem Beitrag soll es sich lediglich um die inflationäre Verwendung des Begriffs Trauma handeln.
Wenn das Trauma real ist: Was kann passieren?
Ein psychisches Trauma kann tiefe Spuren hinterlassen – im Denken, Fühlen und sogar im Körper. Die möglichen Folgen sind vielfältig und oft schwerwiegend:
- Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS): Typische Symptome sind Flashbacks, Albträume, starke innere Unruhe (Hyperarousal) und ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten.
- Komplexe PTBS: Diese Form entsteht häufig durch langandauernde, wiederholte Traumatisierungen, etwa durch emotionalen oder körperlichen Missbrauch in der Kindheit. Hier sind die Auswirkungen noch tiefgreifender und betreffen oft das Selbstbild, die Beziehungsfähigkeit und die emotionale Regulation.
- Begleit- und Folgeerkrankungen: Nicht selten entwickeln sich Depressionen, Angststörungen oder psychosomatische Beschwerden. Körper und Seele reagieren, manchmal über Jahre hinweg.
Dies alles sind Symptome und Folgeerscheinungen, die oftmals nicht gemeint sind, wenn umgangssprachlich von einem Trauma gesprochen wird. Vielmehr handelt es sich häufig eher um erlebten Stress oder eine Krise.
Zur besseren Unterscheidung hilft ein Blick auf die drei zentralen Begriffe:
- Stress ist die Reaktion auf eine Herausforderung, die bewältigt werden muss – etwa Zeitdruck oder hohe Erwartungen. Stress kann akut oder chronisch sein, ist aber in gewissem Maß normal und oft sogar leistungsfördernd. Hält er zu lange an, hat Stress jedoch massive gesundheitliche Auswirkungen.
- Krise beschreibt eine Phase starker Verunsicherung, zum Beispiel nach einem Verlust oder einer plötzlichen Veränderung. Krisen können sehr belastend sein, lassen sich aber häufig mit eigenen Ressourcen oder sozialer Unterstützung bewältigen. Jedoch kann auch eine Krise überfordernd sein. Hier helfen Gespräche mit Fachpersonen, etwa Psychologen, Psychologischen Beratern oder auch Traumafachberatern.
- Trauma hingegen ist die Reaktion auf eine extreme Ausnahmesituation, die die psychische Belastbarkeit massiv übersteigt und nachhaltige Folgestörungen verursachen kann. Oftmals zeigen sich die Auswirkungen des Erlebten erst nach einiger Zeit und manchmal bringt der Betroffene seine Symptome selbst gar nicht mit seinem erlebten Trauma in Zusammenhang. Eine große Entlastung ist hier die Traumafachberatung oder auch eine Traumatherapie.
Wenn wir all diese Zustände sprachlich gleichsetzen, verharmlosen wir ungewollt das, was Betroffene psychischer Traumata durchmachen – und erschweren ihnen womöglich den Zugang zu Verständnis, Unterstützung und professioneller Hilfe.
Der Begriff Trauma verdient einen respektvollen, sorgfältigen Umgang. Das bedeutet nicht, anderen ihre Gefühle abzusprechen, im Gegenteil. Es geht darum, Unterschiede anzuerkennen, um echte Hilfe leisten zu können.
Alles Trauma – oder was?
Nein, nicht alles. Aber vieles, was uns im Leben begegnet, kann schwer sein, verletzend, überfordernd. Diese Erfahrungen verdienen Aufmerksamkeit – auch dann, wenn sie nicht unter die Definition von Trauma fallen.
Ein reflektierter, differenzierter Umgang mit dem Begriff Trauma hilft uns allen weiter. Er schützt die Sichtbarkeit und Versorgung schwer traumatisierter Menschen und eröffnet gleichzeitig Raum für andere Formen seelischen Leids, ohne sie zu über- oder unterbewerten. Denn seelisches Leid ist kein Wettbewerb. Es ist menschlich.
Hier finden Sie alle Informationen zu unseren Online-Ausbildungen im Bereich Trauma.
Dieser Beitrag wurde von Sabine Bognar, Tutorin der Online-Ausbildungen im Bereich Trauma, verfasst.